Angriffe auf linke Demos: Das rechte Wolfsrudel von Favoriten
Keine zehn Minuten dauert die Demonstration von kurdischen und linken Aktivisten am Donnerstag, als die ersten türkischen Parolen die Kundgebung am Viktor-Adler-Markt stören. Schnell drängt die Polizei die Angreifer in Richtung Reumannplatz zurück.
Während bei der linken Kundgebung die Partisanenhymne „Bella Ciao“ gesungen und Reden gegen Faschismus gehalten werden, posieren etwa 50 Jugendliche mit „Wolfsgruß“ vor der Polizei – in Österreich ist das Zeichen der rechtsextremen türkischen „Grauen Wölfe“ verboten. Die Jugendlichen schreien „Allahu akbar“, zünden Feuerwerkskörper und werfen Böller auf die Polizei.
Solche Szenen wiederholten sich in Wien-Favoriten in letzter Zeit regelmäßig. Die zum Teil gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Rechten und Kurden lassen auch in der austrotürkischen Community niemanden kalt. Laut sagen trauen sich das allerdings die Wenigsten. Kritik an den eigenen Leuten wird schnell als Nestbeschmutzung oder gar Verrat wahrgenommen. Zudem ist es nicht einfach ist, die Schuldigen auszumachen.
Fakt ist, dass junge, gewaltbereite Männer immer wieder linke Demonstrationen stören. Mit dem Ziel, Anhänger der türkischen Opposition oder Kurden, die sie pauschal als PKK-Terroristen abstempeln, einzuschüchtern. Sie schwingen Türkei-Fahnen und zeigen den Wolfsgruß. Einem bestimmten Verein dürften die Störenfriede nicht angehören.
Moscheen erreichen Jugendliche nicht
In Österreich gibt es mit der "Türkischen Föderation" einen Ableger der nationalistischen türkischen MHP - sprich der Grauen Wölfe. Dabei handelt es sich um einen Moschee-Dachverband, der zwei Kultusgemeinden in der Islamischen Glaubensgemeinschaft (IGGÖ) stellt. Kritiker sehen deshalb die IGGÖ gefordert, hier deeskalierend aufzutreten.
Ob diese Moscheevereine ein Anlaufpunkt für die Randalierer sind, ist allerdings fraglich. Denn Moscheen haben generell das Problem, dass ihnen die Jugendlichen abhanden kommen. Das Angebot der religiösen Vereine deckt sich zu wenig bis überhaupt nicht mit der Lebenswelt der Jugend. Die IGGÖ oder ihre Kultusgemeinden erreichen die gewünschten Adressaten kaum.
Die generelle Kritik, dass die IGGÖ mit der Türkischen Föderation ein rechtsextreme Fraktion in ihren obersten Gremien akzeptiere, wollte die Glaubensgemeinschaft am Freitag nicht kommentieren. Bei der Türkischen Föderation, die auch Kultur-und Sportvereine betreibt, war für eine Stellungnahme niemand zu erreichen.
Mobilisierung
Über WhatsApp und soziale Medien mobilisieren sie blitzschnell Gleichgesinnte, sobald sich irgendwo linke „Gegner“ versammeln. „Die Polizei hat hier Probleme, spontane Eskalationen vorherzusehen“, erklärt Soziologe Kenan Güngör. Das zeigte sich auch am Donnerstag.
Während sich die kurdische Demo zum Hauptbahnhof bewegte, kamen immer wieder Angreifer aus den Seitengassen, ehe sich am späten Abend hunderte „Graue Wölfe“ und Erdoğan-Anhänger vor dem autonomen Ernst-Kirchweger-Haus versammelten und es angriffen. Dort befindet sich auch ein kurdischer Verein.
Das Fazit der Polizei: Drei Festnahmen auf der rechtsextremen Seite, 34 Anzeigen und zwei verletzte Beamte.
Re-Solidarisierung mit der "alten Heimat"
Dass sich so eine Gruppierung wie derzeit in Favoriten herausbilde, sei nicht untypisch, sagt Szene-Kenner Güngör. In der Sozialwissenschaft kenne man das Phänomen, dass bei Spannungen im Herkunftsland (etwa nach Militäraktionen) in der Diaspora eine Re-Solidarisierung und Re-Identifikation mit der „alten Heimat“ stattfinde. Der Konsum türkischer Propagandamedien verstärke dies bei den Randalieren zudem.
Laut Autor Thomas Rammerstorfer, der ein Buch über die Grauen Wölfe geschrieben hat, stellen diese mit ihren antisemitischen, rassistischen und diktatorisch-militaristischen Ansichten "eine Art Jugendkultur dar, die Männlichkeit, Nationalismus und Zusammenhalt verkörpert".
Wer sind die Bösen?
In den Sozialen Medien ist indes eine Debatte entbrannt, wer da auf den Favoritner Straßen gegen wen zu Felde zieht. Laut dem Politologen Thomas Schmidinger (der enge Kontakte zu Kurden pflegt) seien nicht nur kurdische, sondern auch zwei linke türkische Vereine mit alevitischen Aktivisten Ziel der Störaktionen gewesen.
Beide Seiten kritisiert Politaktivist Hakan Gördü, der im Oktober mit der Kleinpartei SÖZ zur Wien-Wahl antritt. Zum einen die kurdischen Demonstranten, die nur vorgründig für Frauenrechte demonstriert hätten - im Zuge dessen aber Fahnen der YPJ, einer bewaffneten Frauenmiliz eines PKK-Ablegers, geschwungen haben sollen. Dies sei eine "bewusste Provokation" und habe in Österreich nichts verloren.
Sehr deutliche Worte findet Gördü, dem auf Facebook Zehntausende Austrotürken folgen, in einer Videobotschaft aber auch für die Randalierer. Fanatiker dürften nicht im Namen aller Türken in Wien handeln. Denn unter den Folgen - etwa unter "islamophoben Maßnahmen durch die Bundesregierung", die man so provoziere - leide die gesamte muslimische Community.
Neuerliche Demo am Freitag
Am Freitag begann gegen 18.15 Uhr vor dem Ernst-Kirchweger-Haus in der Wielandgasse erneut eine linke Kundgebung - unter dem Schutz eines auffallend großen Polizeiaufgebots. Rund 500 Teilnehmer versammelten sich vor dem autonomen Zentrum, das in den vergangenen beiden Nächten zum Ziel von Angriffen türkischer Nationalisten geworden war.
Von den sogenannten "Grauen Wölfe" war beim KURIER-Lokalaugenschein zwischen Reumann- und Keplerplatz (noch) nicht viel zu sehen. Dafür umso mehr Polizei. Der Bereich rund um das EKH wurde großräumig mit Tretgittern abgesperrt. Nur Demoteilnehmern und Anrainern sowie Journalisten wurde der Zutritt gewährt.
Auch die umliegenden Parks wie der Wielandpark, in dem sich in den vergangenen beiden Nächten die "Grauen Wölfe" immer wieder versammelt hatten, um ihre Angriffe zu starten, wurden von der Polizei gesperrt.
Wiener Stadtchef sieht Sicherheitsthema
Die Situation scheint so ernst zu sein, dass sich am Freitag sogar Bürgermeister Michael Ludwig zu Wort meldete: „Wir haben Bilder der vergangenen Tage gesehen, die in unserer Stadt nichts zu suchen haben. Menschen, die bewusst und provokant gesetzlich verbotene Handzeichen setzen und bereit sind, nicht nur zu provozieren, sondern auch Gewalt anzuwenden.“ Die Vorfälle in Favoriten seien ein Sicherheitsthema.
Der schlechte Ruf des zehnten Bezirks ist schon fast legendär. Favoriten ist der Bezirk mit den meisten Gewalt- und Sexualdelikten. 2019 wurden dort knapp doppelt so viele Straftaten begangen wie im gesamten Burgenland. Aber was tun mit dem „Problembezirk“?
Zuletzt kochte die Debatte vor zwei Jahren auf – aufgrund eines Videos des ungarischen Kanzleramtsministers János Lázár. Wien sei (wegen der Zuwanderer) schmutzig, arm und kriminell geworden, behauptete der Fidesz-Mann darin. Als Beweis waren Aufnahmen von den Straßen Favoritens zu sehen.
Fest steht: Favoriten ist ein Zuwanderer- und Arbeiterbezirk – ein sehr bevölkerungsreicher. Anfang 2020 lebten dort rund 207.000 Menschen. Wäre Favoriten eigenständig, würde es Linz als drittgrößte Stadt Österreichs ablösen. Und Favoriten wird weiter wachsen, wegen der großen Stadtentwicklungsgebiete.
Entstehung
Im Jahr 1874 wurde der 10. Bezirk gegründet. Seinen Namen Favoriten erhielt er vom ehemaligen Jagdschloss Favorita – das sich heute auf Wiedner Bezirksgebiet befindet. In den 1920er- und 1930er-Jahren entstanden viele Gemeindebauten, die den Industriebezirk in einen Wohnbezirk verwandelten
Politische Geschichte
Erster Bezirksvorsteher war 1875 Johann Heinrich Steudel, der in der damaligen Siedlung ein Wirtshaus betrieb. Der zentrale Platz im Bezirk ist der Reumannplatz. Er ist nach dem ersten sozialdemokratischen Gemeinderat Jakob Reumann benannt. Seit 1919 regieren die Sozialdemokraten in Favoriten. Bei der Bezirksvertretungswahl 2015 kam die FPÖ (38,2 Prozent) der SPÖ (40,4 Prozent) aber denkbar nahe
In Favoriten leben mit Abstand die meisten Arbeitslosen – im Jahr 2019 hatten 17.375 Favoritner keinen Job. Das Jahreseinkommen beträgt im Schnitt 19.122 Euro. Nur im 15. und im 20. Bezirk verdienen die Menschen weniger.
"Kein Problembezirk"
Hoch ist auch der Anteil der Zuwanderer: 30 Prozent der Einwohner Wiens haben keine österreichische Staatsbürgerschaft, in Favoriten sind es 37 Prozent. Die größte Gruppe davon sind Serben, gefolgt von Türken. Favoriten sei aber kein Problembezirk, sagt der Soziologe Christoph Reinprecht von der Universität Wien.
Warum dann die Eskalationen? „In Favoriten gibt es einen größeren Anteil von Bevölkerungsgruppen samt Vereinen, die hier die Konflikte aus den Herkunftsländern fortschreiben“, sagt Reinprecht. Türken und Kurden seien in Favoriten gut verankert – und damit auch ihre Konflikte. Schlecht integriert seien diese Menschen deshalb aber nicht: „Solche Konflikte wirken über Generationen nach.“
Weil Favoriten eine sehr heterogene Bevölkerung hat, kommen zu den Spannungen innerhalb der migrantischen Community weitere hinzu. Zwischen Österreichern und Zuwanderern etwa. Oder zwischen den alteingesessenen Bewohnern und jenen, die in schicke Neubauten ziehen.