Chronik/Welt

"Weil wir es jetzt leid sind!"

"Ihr wisst, meine Freunde, es kommt eine Zeit, in der Menschen es leid sind, vom ehernen Fuß der Unterdrückung niedergetreten zu werden. Es kommt eine Zeit, meine Freunde, in der Menschen es leid sind, in den Abgrund der Demütigung gestoßen zu werden, wo sie die Trostlosigkeit nagender Verzweiflung erfahren. Es kommt eine Zeit, in der Menschen es leid sind, aus dem glänzenden Sonnenlicht im Juli des Lebens gestoßen zu werden, um stehen gelassen zu werden in der schneidenden Kälte eines November im Gebirge. Wir sind heute Abend hier, weil wir es jetzt leid sind."

Poetische, mitreißende - biblische - Worte eines Priesters. Sie wurden gesprochen am 5. Dezember 1955 - mehr aus dem Stegreif als vorbereitet. Denn an diesem Tag hatten sich die Ereignisse überschlagen - es war der erste Schritt zu einer neuen Gesellschaft, wie ein Zeitzeuge meinte.

Rosa Parks: Ikone der Bürgerrechtsbewegung:

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Den Ursprung nehmen die Geschehnisse aber vier Tage vorher: Rosa Louise Parks, Sekretärin bei der Wahlrechtsbewegung für Afroamerikaner und Näherin, wusste an jenem Morgen des 1. Dezember noch nicht, dass sie in die Geschichte eingehen würde. Sie lebte in Montgomery, Alabama, einem US-Südstaat, in dem die Rassentrennung allzu oft zur reinen Demütigung diente. Ein bei ihnen besonders verhasstes Symbol für die ausgeprägte Zwei-Klassen-Gesellschaft war die strenge Segregation im öffentlichen Verkehr. "Whites Only" war überall zu lesen - und Parks war es leid.

Vorne im Bus waren vier Reihen für Weiße reserviert, hinten nahmen die Schwarzen Platz. Es gab einen mittleren Teil, den auch sie benutzen durften, allerdings war die komplette Reihe zu räumen, wenn auch nur ein Weißer in dieser Reihe sitzen wollte. Und so kam es auch an jenem Tag: Parks saß in der Mitte, ein Weißer kam an - und sie sie sagte schlicht "Nein". Der Busfahrer James Blake bestand daraufhin auf einem Polizeieinsatz, Parks kam hinter Gitter und stand am 5. Dezember wegen Störung der öffentlichen Ruhe vor Gericht. Die Strafe betrug 10 Dollar, 4 Dollar machten die Gerichtskosten aus.

Die schwarzen Bürgerinnen und Bürger Montgomerys riefen zum Busboykott auf - vorerst nur für jenen Tag. Am Morgen fuhren noch vereinzelt Afroamerikaner in den Bussen mit - doch es sprach sich herum, nach und nach hielten sich fast alle an den Boykott. Ein Bürgerausschuss zur Verbesserung der Beziehungen zwischen den Rassen wurde gegründet - die Montgomery Improvement Association (MIA), deren Vorsitzender der erst 26 Jahre alte Reverend Martin Luther King jun. wurde. King lebte erst seit einem Jahr in Montgomery - er wollte den Protest auch gar nicht anführen. Doch seine Mitstreiter waren vom seinem rhetorischen Talent überzeugt. Für den Abend war die erste Massenkundgebung geplant - und Kings erste Rede vor den Bürgerrechtlern. 5000 Menschen hatten sich rund um Holt Street Baptist Church versammelt. King hatte kaum Zeit, sich vorzubereiten - umso beeindruckender die Sogwirkung seiner Ansprache, die eine ganze Bewegung inspirierte.

"Und wir liegen nicht falsch, in dem, was wir tun. Wenn wir falsch liegen, liegt auch der Oberste Gerichtshof unserer Nation falsch. Wenn wir falsch liegen, liegt auch die Verfassung der Vereinigten Staaten falsch. Wenn wir falsch liegen, liegt auch Gott, der Allmächtige falsch. Wenn wir falsch liegen, war Jesus von Nazareth nur ein utopischer Träumer, der nie zur Erde kam. Wenn wir falsch liegen, ist die Gerechtigkeit eine Lüge. Liebe hat keine Bedeutung. Und wir sind entschlossen, hierin Montgomery, zu arbeiten und zu kämpfen, bis das Recht strömt wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein mächtiger Strom".

Die Rede riss die Menschen von den Stühlen - er hatte ihnen eine mächtige Stimme gegeben, sie geeint. Gleichzeitig betonte King von Anfang an die Gewaltlosigkeit und christlichen Wurzeln der Bewegung - und die Leute stimmten ihm zu. Gemeinsam formulierte man Forderungen an die Stadtverwaltung, die sich wie ein Schneeball entwickeln sollten - aus klein wird groß: Die Busunternehmer sollten etwa auch mit schwarzen Fahrgästen höflich umgehen und auf Linien, die vor allem von Schwarzen benutzt wurden, sollten schwarze Fahrer eingesetzt werden. Im Laufe der Jahre nahm die Gleichstellung an Fahrt auf.

King wusste, worauf er sich an jenem Tag einließ - er wusste, der Weg würde steinig werden. Er schloss seine Rede am 5. Dezember 1955 mit diesen Worten: "Ich werde nicht ruhen; ich werde den Einschüchterungen entgegen treten, und auch allem anderen, gemeinsam mit diesen tapferen Kämpfern für Demokratie und Bürgerrecht. Es macht uns nichts aus, so lange dabei Gerechtigkeit herausschaut. Und ich erkenne nun, da wir um unsere Rechte kämpfen, dass einige werden sterben müssen. Aber jemand sagte einmal, wenn ein Mann nichts hat, wofür es zu sterben lohnt, lohnt es sich nicht zu leben!". Dreizehn Jahre später musste King dafür den Beweis antreten. 1968 wurde er vom Rassisten James Earl Ray in Memphis, Tennessee, erschossen. Rosa Parks, ebenfalls Opfer vieler Morddrohungen, starb erst 2005 im Alter von 92 Jahren.