"Angst kostet Lebensqualität, ohne dass es sicherer wird"

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Wir müssen lernen, mit Bedrohungen zu leben – was die Panik in der Gesellschaft befeuert und wie man damit umgeht.
"Man braucht im Leben nichts zu fürchten, man muss es nur verstehen. Jetzt ist es an der Zeit, mehr zu verstehen, damit wir weniger fürchten." Marie Curie

Vor wenigen Tagen noch der Anschlag in Nizza und die Zug-Attacke in Würzburg – da schien es naheliegend, dass das Attentat in München einen islamistischen Hintergrund hat. "Die Menschen sind sensibilisiert, und das Muster von Amoklauf und Terroranschlag sind auf den ersten Blick sehr ähnlich", erklärt Everhard von Groote vom Institut Psychologie und Bedrohungsmanagement in Darmstadt. Dazu kommt die rasante Verbreitung von Fotos und Videos über soziale Medien. "Ich habe eine dreiviertel Stunde nach der Tat schon erste Aufnahmen gesehen – das befeuert die Panik erst recht."

Daher ruft der Chefarzt des Psychosozialen Dienstes in Wien, Georg Psota, zu Besonnenheit statt Panikmache auf: "Die Geschwindigkeit, mit der wir unsere menschliche Neugier befriedigen, trägt zu dieser Panik bei. Alle müssen permanent up to date sein." Er mahnt dazu, sich nicht hineinzusteigern und Ergebnisse abzuwarten. "Traumatisiert sind die Angehörigen und die Menschen, die dabei waren."

Tod durch Bienenstich viel wahrscheinlicher

Statt sich von Ängsten leiten zu lassen, gilt es daher realistisch zu bleiben. "Sonst kostet das viel Lebensqualität, ohne dass das Leben sicherer wird", sagt von Groote. Statistisch gesehen, ist das Risiko, bei einem Autounfall zu sterben oder an seinem eigenen Essen zu ersticken zigfach höher als bei einem Attentat umzukommen. "Die Unberechenbarkeit, mit der mehrere Menschen gleichzeitig ums Leben kommen, ohne dass sie damit gerechnet hätten, trifft einen Urinstinkt als Herdentier. Da klaffen Wissen und Fühlen weit auseinander."

Letztendlich müssen wir laut von Groote aber auch lernen, mit einer gewissen Bedrohung zu leben. "In Israel lebt man zum Beispiel mit einer ständigen Bedrohung, ist aber nicht dauernd ängstlich." Statt dauernd an die Angst zu denken, sollte sich der Blick auf das richten, was die Bedrohung sonst noch auslöst: "Solidarität und Hilfsbereitschaft. Darin zeigt sich die Stärke einer Gesellschaft."

Brüchiges Selbstwertgefühl des Attentäters

Daneben deutet einiges darauf hin, dass der Täter sich an dem Norweger Andres Behring Breivik orientiert haben könnte. Dieser hat genau vor fünf Jahren 77 Menschen ermordet. "Es kommt häufig vor, dass Täter sich mit anderen Amokläufern identifizieren und sie heroisieren", erklärt von Groote. Dazu kommt das junge Alter – Ali David S. war erst 18. "Das Selbstwertgefühl ist in diesem Alter sehr brüchig, die Identität ist noch nicht fest ausgebildet." Videoaufnahmen von Zeugen zufolge hat sich der Täter zudem gemobbt gefühlt. "Das war offenbar eine Tat aus narzisstischer Wut gekoppelt mit Hass auf diejenigen, die einen zurücksetzen. Erwachsene haben bereits andere Bewältigungsstrategien gelernt."

Allerdings betont Psota, dass es auch etliche ältere Amokläufer gibt und erinnert etwa an den Wilderer in Annaberg vor drei Jahren, bei dem vier Menschen ums Leben kamen. Oder den Amoklauf bei einem Konzert in Nenzig im Mai mit drei Toten.

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