Atomstrom in Europa: Entscheidende Tage

So würde das geplante Hinkley Point C aussehen (Computergrafik)
Mit dem britischen Projekt Hinkley Point C stehen und fallen die Ausbaupläne der europäischen Atom-Industrie.

Alleen wie ein endloser Blättertunnel, Schaf- und Pferdeherden am Wegesrand: Wer zu Europas umstrittenstem Kraftwerk will, fährt durch pittoreske Rosamunde-Pilcher-Landschaften. Hinter der südwestbritischen Stadt Bridgwater endet die Straße allerdings abrupt. Ein gewaltiger Zaun versperrt den Weg.

Atomstrom in Europa: Entscheidende Tage
Besichtigung AKW Hinkley Point, Somerset, UK mit OÖ. Landesrat Rudi Anschober, Aktivisten "Stop Hinkley" Allan Jefferey, Peter Smith
Auf zwei Quadratkilometern Fläche sollen hier neben den alten Kraftwerksblöcken zwei Reaktoren wachsen: Hinkley Point C. Der neue Reaktortyp namens EPR ("European Pressurized Reactor") soll 3,2 Gigawatt liefern. Und das frühestens ab 2026. Die Kosten werden auf 22 Milliarden Euro geschätzt, könnten aber auf bis zu 30 Milliarden klettern. Stemmen will das ein Konsortium der französischen Konzerne EdF und Areva (zwei Drittel) mit chinesischen Staatsfirmen (ein Drittel). Ein Monsterprojekt.

Solarstrom im Kernkraftwerk

Erster Strom wird schon produziert: Die Überwachungskameras am Bauzaun werden aus Solarenergie gespeist. "Nett, oder?", kommentiert Allan Jefferey von der lokalen Initiative "Stop Hinkley" ironisch. Er stemmt sich seit drei Jahrzehnten gegen den Bau. Engagiert ist auch der oberösterreichische Landesrat Rudolf Anschober (Grüne), der eine Gruppe Journalisten zum Lokalaugenschein mitgenommen hat.

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Besichtigung AKW Hinkley Point, Somerset, UK mit OÖ. Landesrat Rudi Anschober, Aktivisten "Stop Hinkley" Allan Jefferey, Peter Smith
Warum bekämpft Oberösterreich ein Kraftwerk, das 1300 Kilometer Luftlinie von Linz weg liegt? "Weil Hinkley Point der entscheidende Dominostein ist: Wenn er stürzt, fallen viele andere Projekte", erklärt Anschober. Neue Atomkraftwerke könnten in Europa nur mit hohen staatlichen Subventionen gebaut werden. Erhält Hinkley keine Genehmigung, seien auch die Ausbaupläne an Österreichs Grenze für Dukovany, Temelin, Pacs oder Krsko hinfällig. Und die Chancen, Hinkley zu stoppen, stehen gut.

May-Day, May-Day

Jetzt heißt es Warten auf die britische Regierung. Ende Juli hat sich der französische Energieriese EdF festgelegt: Ja, wir bauen. Der Champagner war schon kalt, doch wenige Stunden vor dem Festakt zog die neue britische Premierministerin Theresa May überraschend die Reißleine. Man wolle die Wirtschaftlichkeit von Hinkley Point überdenken. May äußerte zudem Bedenken, den Chinesen Zugriff auf kritische Infrastruktur zu überlassen. Die Entscheidung, ob die Regierung das Projekt unterstützt, soll in wenigen Tagen kommen.

Österreichs Klage

Ein weiterer Stolperstein ist die Klage, die Österreich und Luxemburg im Juli 2015 vor dem Europäischen Gerichtshof angestrengt haben. Sie richtet sich gegen die EU-Kommission, die die üppigen Staatshilfen für Hinkley Point C im Oktober 2014 überraschend als EU-rechtskonform eingestuft hat. Die Klage sieht dadurch den Wettbewerb auf dem Strommarkt massiv verzerrt. Anschober erwartet das Urteil im ersten Halbjahr 2017. Somit können sich die Briten nicht darauf ausreden, dass sie ohnehin aus der EU austreten werden ("Brexit").

Unfreiwilliger Eskort

Die Gruppe vor dem Zaun hat Begleitung erhalten. Securityleute dokumentieren den Besuch. Der Bus erhält noch 15 Kilometer weit eine Polizei-Eskorte. Eine angefragte AKW-Besichtigung war nicht bewilligt worden. Die Nervosität ist offenkundig groß, es sind entscheidende Tage. Für Hinkley Point. Und die Zukunft der Atomkraft in Europa.

Ex-Kollegen beschimpfen ihn als einen „Verräter“ : 29 Jahre hat Peter Smith im AKW Hinkley Point gearbeitet, zuletzt als Chefelektriker.

Atomstrom in Europa: Entscheidende Tage
Besichtigung AKW Hinkley Point, Somerset, UK mit OÖ. Landesrat Rudi Anschober, Aktivisten "Stop Hinkley" Allan Jefferey, Peter Smith
Er hat miterlebt, wie radioaktiver Schlamm dilettantisch entsorgt wurde – die Atomaufsicht bestätigt solche Vorfälle. Kollegen seien an Krebs verstorben, offiziell ohne Bezug zu ihrem Job. Heute steht Smith auf der Seite der Atomkraftgegner.

Er sagt über...

seinen Sinneswandel ...

Die Nuklear-Industrie hat uns über die Sicherheitsstandards belogen. Dieses Bewusstsein ist bei mir nach und nach gewachsen. Ich musste ständig um Geld für die Sicherheitssysteme kämpfen. Und das in Fällen, wo das überhaupt kein Thema sein sollte.

die Risiken von Atomkraft ...

Ich wollte früher daran glauben, dass diese Technologie sicher gestaltet werden kann. Als ich im Kraftwerk zu arbeiten begonnen habe, war das noch eine nationale Industrie, wo es keinen Grund gab, den Gewinn über die Sicherheit zu stellen. Die Realität ist aber eine andere. Theoretisch sollte ein Unfall höchstens alle 10.000 Jahre passieren, in der Praxis ist es alle zehn Jahre der Fall. Die Geschichte beweist uns: Es funktioniert einfach nicht.

gefährliche Reaktortypen ...

Druckwasserreaktoren wie Sizewell B oder Hinkley Point C bereiten mir noch mehr Sorgen als ältere Typen. Das Problem ist, dass zwar Wasser hervorragend kühlt, Dampf aber nicht. Fällt also wie in Fukushima der Strom aus, gerät ein wassergekühlter Reaktor binnen weniger Stunden in einen höchst gefährlichen Zustand. Gasgekühlte Reaktoren bleiben länger stabil, sind aber viel teurer. Die modernen Reaktorpläne werden immer komplexer, aber nicht sicherer.

Energiesicherheit, Jobs und „sauberer“ Strom ohne CO2-Emissionen: Diese Gründe werden für Hinkley Point C ins Treffen geführt. Großbritannien wäre sonst von „Blackouts“ (Stromausfällen) bedroht, heißt es. Und die strukturschwache Region Somerset erhalte 900 fixe Arbeitsplätze im AKW, in der Bauphase würden bis zu 5600 Arbeiter beschäftigt. Aber was spricht dagegen?

Hohe Subventionen

Die Verträge für Hinkley C sehen vor, dass die britischen Steuerzahler den französisch-chinesischen Betreibern einen fixen Stromabnahmepreis garantieren. Und das 35 Jahre lang. Dieser Garantiepreis liegt drei Mal so hoch wie der aktuelle Marktpreis. „Tony Blair hatte 2006 versprochen, es werde keine Subventionen geben. Jetzt kriegen wird den teuersten Strom auf dem Markt“, warnt Energieexperte Steve Thomas, Professor an der Universität Greenwich. Ein Parlamentsbericht schätzt den Zuschussbedarf über die Lebensdauer des AKW auf 36 Milliarden Euro.

Unerprobter Reaktortyp

Der von Areva entwickelte Bautyp EPR (European Pressurized Reactor) ist noch nirgendwo auf der Welt in Betrieb. In Flamanville (Frankreich) und Olkiluoto (Finnland) sind große Probleme aufgetreten – die Baukosten explodieren, die Inbetriebnahme rückt Jahr für Jahr in weitere Ferne. Einige Experten bezweifeln, dass ein Betrieb überhaupt möglich ist.

Akute Pleitegefahr

Der Kraftwerkbauer Areva schreibt seit Jahren hohe Verluste, weitere Milliarden-Klagen drohen. Der französische Staat muss entscheiden, ob Areva aufgefangen oder in die Pleite geschickt wird. Daran hängt auch das Schicksal des staatlichen Stromkonzerns EdF. Das erklärt das große Interesse am Bau von Hinkley Point.

Hochrisikotechnologie

Gegen Überschwemmungen, Erdbeben oder Terroranschläge können Atomkraftwerke nicht abgesichert werden. Hinkley Point ist besonders exponiert: An der Küste von Somerset ist der Tidenhub (Meerespegel zwischen Ebbe und Flut) der zweithöchste der Welt. Das Gebiet war bereits mehrfach überflutet.

Chinas Fuß in der Tür

Der chinesische Konzern CNNC, der ein Drittel von Hinkley finanziert, gilt als „militärische Staatseinheit“, was Spionagebedenken schürt. Der Deal sieht vor, dass die Chinesen im Gegenzug einen Reaktor ihres Typs AP1000 in Bradwell an der britischen Ostküste bauen dürfen. Das wäre ein „Ritterschlag“ für diesen Reaktortyp.

Entsorgung von Nuklearmüll

Wie fast überall ist ungeklärt, was mit den Brennstäben passiert, die Jahrtausende lang weiterstrahlen. Jene von Hinkley C sollen 160 Jahre vor Ort gelagert werden, nur 50 Meter von der Meeresküste entfernt. Ein geplantes Endlager in Sellafield im Norden Englands ist hochumstritten.

Günstige Alternativen

Atomstrom wird teurer, alternative Energie immer billiger“, sagt Paul Dorfman vom UCL Energy Institute. In Englands Südwesten wären die Bedingungen perfekt, um Strom aus Windkraft oder Gezeitenkraftwerken zu generieren.

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