"Wer will schon mit Besoffenen zu tun haben?"

Cecily Corti im Innenhof der Notschlafstelle. Infos und Spendenmöglichkeiten auf
Cecily Corti engagiert sich für Obdachlose und befindet, dass Österreichs Politik beschämend lahm agiert.

KURIER: Sie nennen jene, die in der Notschlafstelle VinziRast ein Bett, eine Mahlzeit bekommen explizit Gäste. Warum?

Cecily Corti: Mit Gästen wollen wir auch zum Ausdruck bringen: "Du bist willkommen." Sie müssen keine Qualifikationen mitbringen, keinen Status erfüllen. Sie sind unsere Gäste. Kein Urteil, wir wissen nicht, wie wir in der gleichen Situation handeln würden. Momentan können sie für vier Wochen bleiben.

Warum nur 30 Tage?

"Wer will schon mit Besoffenen zu tun haben?"
Interview mit Cecily Corti in der Notschlafstelle VinziRast, Wilhelmstraße 10. Wien, 24.07.2014
Weil wir Ehrenamtliche und keine Sozialarbeiter sind und ihnen nicht wirklich weiterhelfen können. Weder zu einem Job noch zu einer Wohnung. Manchmal begleiten wir sie zum AMS oder unterstützen bei der Wohnungssuche, weil viele nicht wissen, wohin sie sich wenden sollen. Uns geht es darum, eine Art "Erste Hilfe" anzubieten. Entweder, um ankommen zu können im fremden Land oder nach einer langen Zeit auf der Straße ein frisches Bett, eine ruhige Nacht, ein gutes Essen, eine freundliche Atmosphäre zu haben, um sich weiter zu orientieren.

Seit dem Zweiten Weltkrieg waren noch nie so viele Menschen auf der Flucht. Syrien, Ukraine, Israel – nehmen Sie vermehrt Flüchtlinge aus diesen Regionen wahr und auf?

Aus Syrien hatten wir früher nur sehr sporadisch einen Gast. Jetzt ist es ein Mal in drei, vier Wochen. Nach dem Arabischen Frühling kamen viele Nordafrikaner aus Marokko und Algerien. Momentan sind vermehrt Schwarzafrikaner bei uns.

Über Lampedusa?

Nicht unbedingt. Wir forschen auch nicht alles nach. Manche kommen mit dem Transitpass regulär über die Grenze. Viele, die in Italien gestrandet, völlig ohne Aussicht auf Arbeit sind, glauben, in Österreich wird es leichter sein. Österreich hat einfach den Ruf, zu Recht, dass es uns hier sehr gut geht.

Österreich zählt zu den reichsten Ländern der Welt. Dennoch gibt es immer mehr Sozialmärkte, wird die Differenz zwischen Armut und Reichtum größer.

Das ist sicherlich so. Und doch: Unser soziales Netz bietet sehr viel. Vieles funktioniert hier, was in anderen EU-Ländern fehlt.

Was gibt es beispielsweise in anderen EU-Ländern nicht?

Derart viele Notschlafstellen, soziale Einrichtungen, medizinische Versorgung für alle EU-Bürger. Mein persönlicher, momentaner Eindruck ist zudem, dass die Begegnung auf den Ämtern freundlicher wird. Trotzdem ist vieles im Argen. Unsere Politik agiert unentschlossen und lahm. Ja, das ich finde beschämend.

Inwiefern?

"Wer will schon mit Besoffenen zu tun haben?"
Interview mit Cecily Corti in der Notschlafstelle VinziRast, Wilhelmstraße 10. Wien, 24.07.2014
Nicht mal die ersten 500 Syrer sind da. Die Voraussetzungen, die gefordert werden, sind kompliziert und schwer zu erfüllen. Die Bürokratie ist auch hier voller Hindernisse. Ich habe Verständnis, dass nicht einfach alle Grenzen geöffnet werden. Aber was beispielsweise jetzt in Syrien passiert, ist so ungeheuerlich.

Meinen Sie damit auch, die Präferenz zuerst Frauen, Kinder und Christen aufzunehmen?

Grundsätzlich habe ich für mich entschieden, der Politik nicht zu sagen, was sie zu tun hat. Wir tun, was wir tun können im Rahmen unserer Möglichkeiten in den Einrichtungen der VinziRast.

Wie verständigen sich die Gäste unterschiedlicher Kulturen und Sie sich mit Ihnen?

Englisch geht gut, Französisch sprechen wir mit den Nordafrikanern, Rumänen haben oft Italienischkenntnisse. Sonst behelfen wir uns untereinander mit anderen Gästen, die die Sprache können. Jeder, der neu kommt, bekommt ein Informationsblatt, das wir in alle Sprachen übersetzt haben, mit kleinen Zeichnungen und den allerwichtigsten Regeln.

Die da wären?

Die wichtigsten Regeln sind: Keine Gewalt, kein Rauchen in den Schlafräumen und kein Spritzen von Drogen. Darüber hinaus gibt es natürlich auch Regeln für den Ablauf, wie Ruhe in der Nacht, gewisse Zeiten der Aufnahme und der Entlassung am Morgen, Zeit für die Mahlzeiten et cetera.

Wie oft werden die Regeln gebrochen?

Nicht oft. Manche wollen nicht akzeptieren, dass wir kein Bett mehr haben. Die meisten zeigen aber Verständnis. Trotzdem gibt es auch solche, die uns dann Rassisten nennen. Das macht mich wütend. Ich verstehe deren Reaktion aber auch, weil dieser Rassismus in unserer Stadt sehr verbreitet ist.

Worauf kommt es in solchen Situationen an?Möglichst ruhig zu bleiben. Ruhig, aber bestimmt. Viele Menschen werden eben aggressiv, wenn sie nicht erreichen, was sie wollen. Aber das sind Erfahrungen, die jeder Mensch macht. Wie und auch in welchem Tonfall man einem Menschen begegnet, hat eine Wirkung.

Jedenfalls nicht aggressiv.

Und gleichzeitig nicht nur nachgebend. Klarheit und Struktur sind wichtig. Wir besprechen das oft im Team. In der Notschlafstelle arbeiten zurzeit rund 35 Ehrenamtliche unglaublich engagiert. Gerade in diesen Wochen sind aber auch ganz junge Menschen zu uns gestoßen, die sich voll einbringen.

Denken Sie, dass der Wunsch, sich ehrenamtlich zu engagieren, mit dem derzeitigen Weltgeschehen zu tun hat?

Das wage ich nicht zu sagen. Für mich war es jedenfalls eine starke Motivation. Die Ohnmacht, scheinbar nichts dagegen tun zu können, wie viel Zerstörung in der Welt stattfindet, wie Menschen miteinander umgehen, war für mich unerträglich. Abgesehen davon macht es aber einfach Freude und Sinn. Wie hat es Václav Havel gesagt? "Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass es Sinn macht, egal wie es ausgeht." Ich glaube, dass wir alle Sinn in unserem Leben suchen. Jeder, jede tut es auf individuelle Weise und sicher auch abhängig von der Lebenssituation oder auch Lebensphase.

Wann begann Ihre Phase?

Vor 40 Jahren hätte ich das sicher nicht machen wollen, auch vor 20 nicht, als mein Mann gerade gestorben war. Ich habe erst langsam entdeckt, wie sehr das Anteilnehmen am anderen Lebendigkeit und Wachheit entwickelt und wirklich Freude macht. Der Horizont wird so viel weiter. Es entsteht viel Freiheit! Und der Zustand in unserer Welt wird immer bedrohlicher. Und damit auch der Druck, sich individuell und persönlich zu engagieren.

Umgekehrt könnte man auch sagen, Sie beschränken sich auf Leid und Armut.

Das erlebe ich überhaupt nicht so. Ich hatte ja auch Phasen in meinem Leben, in denen ich ganz andere Prioritäten hatte. Diese Beschränkung, wie Sie sie nennen, bringt mich der Wirklichkeit näher, dem Menschen, wie ich meine. Mit Freiheit meine ich auch z. B. einem Obdachlosen nicht aus dem Weg gehen zu müssen.

Sie meinen, frei von Vorurteilen zu sein?

Ganz frei davon bin ich sicher nicht. Aber ich erlebe für mich viel mehr Freiheit in der Begegnung mit dem mir Fremden. Ich kann besser Menschen entgegentreten, die aggressiv sind, Angst machen.Sind Sie jetzt angstfrei?

Natürlich nicht. Angst war auch in meinem Leben ein Thema. Ich war und bin gleichzeitig immer sehr neugierig. Auf Menschen zum Beispiel. Und hier begegne ich so vielen, gänzlich unterschiedlichen Persönlichkeiten, Studierende, Sponsoren, Journalisten, Obdachlose, die vielen ehrenamtlichen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Die Beschränkung bringt im Gegenteil Vielfalt und auch Tiefe mit sich.

Wie schwierig oder leicht war und ist es, Menschen wie Sponsor Hans Peter Haselsteiner für ihre Projekte zu gewinnen?

So schwierig ist es nicht (lächelt). Vor allem die Begegnung mit Hans Peter Haselsteiner war eine große Überraschung und Freude. Aber was heißt schwierig? Mühe ist keine Kategorie in meinem Leben. Ich gebe nicht schnell auf, wenn ich etwas will. Wirklich jeder hat gesagt: Kein Mensch wird Dir einen luckerten Heller für besoffene Sandler geben. Und niemand wird ehrenamtlich mitarbeiten wollen. Wer will schon mit Besoffenen zu tun haben?

Sie. Kraft und dank Ihres Charakters und Ihrer Überzeugungskraft. Das weiß ich nicht. Sicher war ich unbeirrbar. Ich weiß inzwischen recht gut, was ich will. Aber so mühselig und ungewöhnlich ist das nicht, was ich mache.

2003 gründeten Sie die VinziRast, vor einem Jahr VinziRast-mittendrin, wo Studierende und Obdachlose miteinander lernen und leben. Ist ein nächstes Projekt geplant?

Oh nein. Wir haben reichlich zu tun. Wir haben uns viel vorgenommen, und merken das erst jetzt. Ich lerne Geduld zu haben, und unsere VinziRast-mittendrin ist sehr komplex mit den vielen verschiedenen Aufgabengebieten. Und es kommen immer neue Ideen dazu, was wir mit unseren Projekten ermöglichen könnten.

In der VinziRast schlafen überwiegend Männer, das Team der Ehrenamtlichen besteht zum Großteil aus Frauen. Warum?Die Obdachlosigkeit von Frauen ist viel versteckter. Sie kommen oft bei Männern unter, die ihren Nutzen daraus ziehen. Und "Helfen" war doch immer mehr Thema der Frauen. Aber es werden mehr Männer. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich viel getan.

Hat der Name Ihres Mannes Axel Corti Ihnen je geholfen?

Mein Mann hat mir geholfen, weil wir 30 Jahre miteinander gelebt haben. Seine Person, unser gemeinsames Leben, hat mich in vielerlei Hinsicht geprägt. Dafür bin ich sehr dankbar. Der Name hat, zumindest habe ich mir das eingebildet, anfangs geholfen. Menschen sprechen mich auf ihn an, auch in der Notschlafstelle, weil sie ihn aus den Medien kannten. Viele haben ihn sehr geschätzt. Oft wundere ich mich, wie sehr sich die Menschen an ihn erinnern. Er war nicht korrumpierbar, bestechlich. Dadurch hatte ich vielleicht einen gewissen Vertrauensvorschuss.

Serie: So wird Österreich noch besser

Biografie

Die gebürtige Wienerin (Jg. 1940) lernte 1964 den Regisseur u. Publizisten Axel Corti kennen, mit dem sie drei Söhne hat. Nach jahrelanger Arbeit als Therapeutin gründete sie 2004 die VinziRast. Für ihr Engagement wurde sie vielfach ausgezeichnet.

VinziRast-Projekt in Wien

Die VinziRast dient Obdachlosen als Notschlafstelle. In der "VinziRast-mittendrin", einem von Hans Peter Haselsteiner für den Verein Vinzenzgemeinschaft St. Stephan gekauften Haus, wohnen Obdachlose und Studierende zusammen.

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