"Den Flüchtlingsstrom stärker steuern und kontrollieren"

Reinhold Mitterlehner im KURIER-Gespräch
Im Grenzzaun-Streit ist der VP-Chef auf Merkel-Kurs, sieht aber eine "faktische Obergrenze" bei Flüchtlingen. Von der ÖVP verlangt Mitterlehner mehr Disziplin. Pröll als Hofburg-Kandidat wäre ein Signal "für Sicherheit in unsicheren Zeiten".

KURIER: Herr Vizekanzler, Sie haben bei Ihrem Amtsantritt vor mehr als einem Jahr gesagt: "Ich möchte nicht mehr von den Bürgern im Sommerurlaub gefragt werden, wofür seid ihr eigentlich da?" Wie oft ist Ihnen diese Frage in diesem Sommer gestellt worden?

Reinhold Mitterlehner: Die Frage ist noch schärfer und intensiver gestellt worden. Das hat einen einfachen Grund: Die Lage ist aufgrund der vielen neuen Herausforderungen von der Griechenland- bis zur Flüchtlingskrise dramatischer geworden. Das erhöht die Unsicherheit und den Wunsch nach einfachen Lösungen. Nachdem diese die Politik bei bestem Willen nicht bieten kann, hat sich die Verdrossenheit erhöht.

Das Bild, das die Regierung nun mit der Debatte um einen Grenzzaun bietet, ist auch kein Beitrag zum Abbau der Verdrossenheit.Oder?

Die Herausforderung in der Flüchtlingsfrage ist eine derart große, dass selbst die laut Forbes zweitmächtigste Frau der Welt, Angela Merkel, die gleichen Auseinandersetzungen in ihrer eigenen Regierung hat.

In der Regierung von Kanzlerin Angela Merkel liefern sich die Verteidigungsministerin und der Innenminister aber keine öffentliche Auseinandersetzung darüber, wer das bessere Konzept für einen Grenzzaun hat, wie bei uns.

In Deutschland gibt es zwischen CSU-Chef Horst Seehofer und CDU-Chefin Merkel die gleichen Debatten wie bei uns. Ich sage Ihnen aber gerne, was meine Position in dieser Frage ist: Deutschland hat den Eindruck erzeugt, alle Flüchtlinge wären dort willkommen. Jetzt versucht die deutsche Regierung, den Flüchtlingsstrom stärker zu steuern und zu kontrollieren. Daher muss das Gleiche auch bei uns passieren. Nur dann, wenn Deutschland die Grenzen ganz schließt, was ich derzeit nicht annehme, müsste Österreich dasselbe tun. Eine wirkliche Lösung kann es nur durch Auffanglager an den EU-Außengrenzen in Griechenland und Italien geben. Hier setzt derzeit auch Merkel all ihre Bemühungen an.

Das heißt, dass die aktuellen innenpolitischen Debatten über die Art eines Zaunbaus vollkommen sinnlos sind?

Nein, aber das öffentlich auszutragen, ist absolut kontraproduktiv. Es wäre besser, zuerst innen zu diskutieren und erst danach eine Lösung zu präsentieren.

Die betroffenen Minister beider Regierungsparteien folgen ihren Parteichefs offensichtlich aber nicht?

Ich verstehe vor allem das unnötige Vorpreschen des SPÖ-Verteidigungsministers nicht: Es geht nur gemeinsam, das Flüchtlingsthema kann niemand allein gewinnen. Im Gegenteil: Wir müssen aufpassen, nicht zu hoch zu verlieren.

Die EU prophezeit, dass bis 2017 drei Millionen neue Flüchtlinge nach Europa wollen. Gibt es für Sie eine Obergrenze bei der Aufnahmefähigkeit Österreichs?

Die faktische Obergrenze liegt dort, wo das Auftreiben winterfester Quartiere und die Integration an Kapazitätsengpässe stoßen. Wir erwarten heuer rund 80.000 neue Asylwerber. Sehr viel mehr würden Probleme machen. Dann muss endlich die europäische Solidarität der anderen EU-Länder bei der Aufnahme von Flüchtlingen greifen, weil Schutz und Würde ja nicht zahlenmäßig definierbar sind.

Wie wollen Sie das erzwingen: Durch Geldstrafen oder Streichung von EU-Förderungen?

Das ist eine Möglichkeit. Inzwischen gibt es aber auch eine positivere Gruppendynamik, das auch freiwillig zu übernehmen.

In Österreich setzt sich über den Zustand der Politik zunehmen der Befund durch: Die Regierung hat keine Mehrheit und keine gemeinsamen Projekte mehr. Es schweißt sie nur die Angst vor Neuwahlen zusammen.

Dem widerspreche ich entschieden. Der Härtegrad von Meinungsumfragen ist gerade durch die letzten Wahlen mehr als infrage gestellt. Die kommende Schulreform wird sich genauso sehen lassen können wie die Steuerreform. Leider wurden hier von den Interessenvertretungen Detailfragen derart zu Problemen hochstilisiert, dass die Steuerreform nun wie ein Belastungs- und nicht wie ein Entlastungspaket daherkommt.

Die Kritik kommt vor allem von Ihren Parteifreunden im ÖVP-Wirtschaftsbund.

Die 35 Millionen, die die Erhöhung der Grunderwerbssteuer dem Budget insgesamt bringen soll, werden aufgeregt diskutiert. Die eine Milliarde, die den Unternehmen die Lohnnebenkostensenkung bringt, wird mit einem Achselzucken zur Kenntnis genommen. Ich empfehle allen, wie bei einer Fußballmannschaft weniger auf das eigene Tor zu spielen und sich mehr dem Gegner zu widmen.

Hat der Kapitän die ÖVP-Mannschaft nicht mehr im Griff?

Der Kapitän kann nur im Kollektiv erfolgreich sein. In der Phase, das gemeinsam zu lernen, stehen wir gerade: Wir sind ein Team und nicht lauter Einzelspieler. Wenn das alle verstehen, werden wir auch gemeinsam Erfolg haben. Umgekehrt gesagt: Die ÖVP hat innerhalb von zehn Jahren nun den vierten Parteiobmann. Es gibt also eher ein Problem der innerparteilichen Kultur des Umgangs miteinander als eines der Führungspersonen.

Ist das eine versteckte Rücktrittsdrohung für den Fall, dass das innerparteiliche Durcheinander so weitergeht?

Absolut nicht. Das ist nur ein klarer Hinweis darauf: Bevor jemand öffentlich kritisiert, soll er das vorher intern bereden. Denn ansonsten werden wir für die Wähler nicht attraktiver werden. Wenn eigene Gesetze als "vertrottelt" abgetan werden, richtet sich das von selbst.

Die FPÖ hat mit dem Fall Winter und Höbart wieder Debatten über ihre Regierungsfähigkeit ausgelöst. Ist für Sie die FPÖ nach wie vor ein möglicher Koalitionspartner?

Jede Partei, die im Parlament vertreten ist, ist ein möglicher Koalitionspartner.

Wann wird die ÖVP auf Erwin Pröll zugehen und ihn bitten, als Bundespräsident zu kandidieren?

Die Kandidaturfrage wird bis Ende Dezember oder Anfang Jänner, dort wo sie hingehört, gemeinsam besprochen werden – nämlich im Bundesparteivorstand.

Der NÖ-Landeshauptmann wäre ein guter Kandidat?

Selbstverständlich, Erwin Pröll hat mehrere Wahlen erfolgreich geschlagen. Er wäre in der Phase des Gefühls der allgemeinen Unsicherheit auch einer, der Leadership zeigt und Sicherheit in unsicheren Zeiten vermittelt.

Das Push-Pull-Modell der Migration sorgt innenpolitisch für Wirbel. Grob gesagt geht es darum, dass die Innenministerin nicht zu viele Signale an Flüchtlinge aussenden will, dass sie in Österreich gut versorgt werden. Was dem Kanzler nicht unbedingt gefällt.

Das Push-Pull-Modell stammt aus den 1960er-Jahren, und ist eine ökonomische Migrationstheorie, wonach es Faktoren gibt die Menschen aus ihrer Heimat wegschieben (z. B. Krieg, Push-Faktoren) beziehungsweise von einem anderen Gebiet angezogen werden (Pull-Faktoren).

In den vergangenen Ministerräten soll es merkliche Spannungen zwischen ÖVP-Innenministerin Mikl-Leitner und SPÖ-Kanzler Werner Faymann gegeben haben. Es geht um die 100.00 winterfeste Quartiere entlang der Flüchtlingsrouten am Balkan, auf die sich die EU verständigt hat. 50.000 davon sollen alleine in Griechenland entstehen, der Rest aufgeteilt auf die Länder Mazedonien, Serbien, Kroatien, Slowenien und Österreich. Dem Vernehmen nach wollte der Kanzler zuerst 25.000 zusätzliche Plätze für Österreich einmelden lassen (rund 25.000 gibt es bereits). Das habe Mikl-Leitner als völlig unverhältnismäßig abgelehnt, zudem sei es ein unnötiger "Pull-Faktor". Das Kanzleramt ist jetzt besorgt, dass die vorhandenen Notkapazitäten nicht ausreichen.

Generell ist zu bemerken, dass auf beiden Seiten das Vertrauen und die Kooperation innerhalb der Koalition nicht zum Besten steht. Das Klima in der Koalition scheint durch Gerüchte und Unterstellungen schwer zu leiden.

IV- & BIG-Quartiere

Bessere Nachrichten kommen indes von der Industriellenvereinigung (IV) und der Bundesimmobiliengesellschaft (BIG): Beide sind bei der Suche nach neuen festen Unterkünften für Flüchtlinge fündig geworden.

Seitens der IV ist zu erfahren, dass die Mitglieder gebeten wurden zu evaluieren, ob sie neue Quartiere bereit stellen können. Nun haben die IV-Mitglieder Langfrist-Unterbringungsmöglichkeiten für rund 500 Personen, oder rund 4000 m² Wohnfläche, eingemeldet, die gerade geprüft werden. Oft sei aber das Problem, dass eine Weitergabe an Formalkriterien scheitert, weil etwa einige Bundesländer höhere Standards vorschreiben als der Bund, was als "menschenwürdige Unterkunft" erlaubt ist.

Noch bessere Nachrichten kommen von der staatlichen Gebäudeverwaltung BIG, die bereits rund 108.000 Wohnfläche (darunter allein rund 30.000 mit dem Lager Traiskirchen) zur Verfügung gestellt hat. Nach Durchforstung aller Bestände habe man dem Bund weitere 70.000 Wohnfläche angeboten, mehr als 20.000 werde konkret verhandelt.

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