Neuer Flüchtlingsstrom fordert Europa heraus

Neuer Flüchtlingsstrom fordert Europa heraus
Auf der Flucht vor dem IS-Terror suchen in Österreich immer mehr Flüchtlinge um Schutz an. Traiskirchen ist wieder überfüllt, die Innenministerin braucht zusätzliche Quartiere und mehr Geld.

Wegen des IS-Terrors im Nahen Osten (siehe unten) rollt jetzt eine neue, große Flüchtlingswelle auf Europa zu. Die ersten massiveren Auswirkungen sind in Österreich bereits zu spüren. Seit Sommerbeginn ist die Zahl der Asylanträge sprunghaft angestiegen.

Innenministerin Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) schlägt daher Quartier- und Budget-Alarm. Das Erstaufnahmezentrum in Traiskirchen ist trotz des vor Wochen von Niederösterreichs Landeshauptmann Erwin Pröll verfügten Aufnahmestopps mit 1400 Asylwerbern wieder randvoll. Um dort rechtskonform zu agieren, musste das Innenministerium zum Teil selbst die Betreuung übernehmen. Auch sucht die Innenministerin in Österreich dringend neue Quartiere. Denn Experten erwarten in nächster Zeit keine Entspannung.

Neuer Flüchtlingsstrom fordert Europa heraus
Johanna Mikl-Leitner, Mikl Leitner, Ministerin, Bundesministerin für Inneres
Die Entwicklung hat auch Auswirkungen auf das Budget. Laut Innenministerium werden Bund und Länder für die Grundversorgung erstmals um die 200 Millionen Euro aufwenden, um rund 30 bis 40 Millionen mehr als im Vorjahr. Mikl-Leitner: "Es sind zusätzliches Budgetmittel notwendig."

130 Anträge pro TagAuf der Flucht vor den Kämpfen in Syrien und dem Irak kommen seit Wochen deutlich mehr Flüchtlinge an. Am Montag meldeten sich 135 neue Asylwerber, vergangene Woche waren es 700. Mikl-Leitner: "Im August gab es um 73 Prozent mehr Erstanträge als noch vor einem Jahr."

Bund und Länder stehen daher bei der Quartiersuche noch mehr unter Druck und kommen fast nicht nach. In Traiskirchen musste sogar zu einer Notmaßnahme gegriffen werden. Der von Niederösterreich verfügte Aufnahmestopp wurde de facto außer Kraft gesetzt. Der Asyl-Betreuer ORS darf laut Bescheid zwar nur 900 Flüchtlinge beherbergen.

Trotzdem sind in Traiskirchen wieder 1400 Flüchtlinge – wie vor dem Aufnahmestopp – untergebracht. Denn in der Zwischenzeit hat das Innenministerium einen Teil der Betreuung übernommen. An eine weitere Ausweitung sei vor Ort aber nicht gedacht. "Zusätzlichen Platz gibt es nicht", sagt Mikl-Leitner. Trotzdem ist die Aufregung in der Flüchtlingsstadt groß. Bürgermeister Andreas Babler (SPÖ) fuhr am Dienstag zu Bundeskanzler Werner Faymann, um eine Entlastung zu fordern.

Quartiersuche

Angesichts der Quartiernöte greift Mikl-Leitner zu unkonventionellen Maßnahmen. Für einige Tage wurden Syrier in einem Turnsaal der Salzburger Polizei einquartiert. Trotzdem ist die Ministerin positiv gestimmt. Immer mehr private Quartiergeber würden sich jetzt melden: "Heute konnten wir in der Steiermark ein neues Bundesbetreuungsquartier für 50 Asylwerber eröffnen." Allerdings war dies gleich bis zum letzten Platz gefüllt.

Von den knapp 25.000 Asylwerbern im Land betreut die Caritas 2769. Caritas-Direktor Michael Landau hält die bevorstehenden Herausforderungen "für bewältigbar. Aber dazu müssen Bund und Länder zusammenarbeiten." Landau ermahnte daher alle Länder, ihre Verpflichtungen zu erfüllen.

Der neue Flüchtlingsstrom wird jetzt zum Problem für Europa. Die Innenministerin kritisiert: "Acht bis neun Länder betreuen 90 Prozent der Asylwerber. Da gibt es eine extreme Schieflage." Daher fordert Mikl-Leitner jetzt einen Mahnruf der EU-Kommission ein: "Alle Länder müssen sich aktiv an der Flüchtlingsbetreuung beteiligen." Anfang Oktober werde dies eine zentrale Frage beim nächsten EU-Innenministertreffen sein.

Mittelfristig wünscht sich Mikl-Leitner überhaupt einen neuen, fixen Verteilungsschlüssel in Europa. Und: "Das UNHCR soll die Erstprüfung der Schutzbedürftigkeit vornehmen." Doch darüber braucht es in Europa erst eine intensive Diskussion.

Neuer Flüchtlingsstrom fordert Europa heraus

Im Verhältnis zur eigenen Bevölkerungszahl gerechnet hat 2013 von allen 28 EU-Staaten Schweden am meisten Asylsuchende aufgenommen (5700 Anträge auf eine Million Menschen), dann folgen Malta (5300), Österreich (2100) und Luxemburg (2000). Insgesamt baten 2013 in der EU 435.000 Menschen um Asyl (+100.000 im Vergleich zu 2012).

Absolute Zahlen

Ziel vieler Flüchtlinge ist das wirtschaftlich starke Deutschland: 127.000 Menschen stellten im Vorjahr ihren Asylantrag in Deutschland, danach folgen Frankreich mit 65.000 Flüchtlingen und Schweden (54.000). Im Vorjahr erhielten nach Angaben der Statistikbehörde Eurostat rund ein Drittel aller Antragsteller in der Europäischen Union Asyl.

Herkunftsländer

Die meisten Flüchtlinge kamen 2013 aus Syrien (50.000), gefolgt von Russland (41.000). Angesichts der Kriegslage in Syrien wird erwartet, dass die Zahl der Flüchtlinge aus Syrien in der EU weiter steigen wird. Auch aus dem Nordirak, wo zuletzt 600.000 Menschen vor dem IS flohen, dürften sich mehr Flüchtlinge in Richtung EU aufmachen.

Verschleppt, als Sex-Sklavin mehrmals täglich missbraucht, geschlagen, gebrochen – das, was ein 17-jähriges Jesiden-Mädchen in einem Telefonat erzählt, ist ein Protokoll des Grauens. "Meinen Körper haben sie bereits getötet, nun bringen sie auch noch meinen Geist um", so die junge Frau zu einem Reporter der italienischen Zeitung La Repubblica. "Sie" – das sind die Extremisten der Terror-Miliz "Islamischer Staat" (IS), die in Syrien und dem Irak ihr Unwesen treibt.

Das Martyrium des Teenagers begann laut eigenen Angaben am 3. August, als IS-Kämpfer ihre Heimatstadt Sindschar im Norden des Zweistromlandes überfielen. Vielen gelang die Flucht, auch ihren Eltern. Diese befinden sich derzeit in einem Flüchtlingslager im kurdisch kontrollierten Teil des Iraks(von dort wurde auch das Telefonat geführt). Die junge Jesidin konnte mit 40 anderen Leidensgenossinnen, manche sind erst zwölf Jahre alt, den Islamisten nicht entkommen.

Bis zu drei Mal pro Tag würden die Mädchen und Frauen vergewaltigt, von unterschiedlichen Gruppen von Männern. "Sie sagen, wir sind ihr Eigentum, gleichsam eine Kriegsbeute. Außerdem sagen sie, dass wir wie Ziegen seien, die sie auf dem Markt gekauft hätten."

"Ein Teil von mir möchte nur sterben"

Und weiter: "Ich schäme mich so für das, was sie uns antun. Ein Teil von mir möchte einfach nur sterben. Wir haben sie sogar schon gefragt, dass sie uns doch erschießen, doch wir sind zu wertvoll für sie."

Ganz aufgegeben hat sich die 17-Jährige aber noch nicht. "Ich hoffe, dass ich meine Eltern irgendwann wieder in die Arme schließen kann. Und dabei liegt meine ganze Hoffnung auf den (kurdischen) Peschmergas (die gegen die IS-Miliz militärisch vorgehen). Aber sie müssen schnell anrücken, denn ich weiß nicht, wie lange ich das noch aushalte."

Handys wieder ausgeteilt

Dass es überhaupt zu diesem authentischen Bericht aus dem Horror-Camp kommen konnte, geht auf eine Strategie-Änderung der selbst ernannten "Gotteskrieger" zurück. Denn anfänglich hatten sie ihren Geiseln die Handys abgenommen. Doch dann wollten sie offenbar, dass ihre grauenhaften Taten in die Welt getragen werden. "Um uns noch mehr zu verletzen, sollten wir unseren Eltern in allen Details beschreiben, was sie mit uns tun", sagt die junge Jesidin in dem Telefonat, "und dabei lachen sie, weil sie glauben, dass sie unbesiegbar seien. Sie fühlen sich als Superman, dabei sind sie aber nur Leute ohne Herz."

Diese Methode des "Islamischen Staates", die Gräueltaten rasch und über möglichst viele Kanäle global zu streuen, entspricht der bisherigen Praxis der Extremisten. Diese, analysiert der Direktor des Nationalen US-Konter-Terrorismus-Zentrums, Matt Olsen, hätten "die stärkste Propaganda-Maschinerie aller Terror-Organisationen." Dies wohl auch, um im Rennen um die weltweite Vorherrschaft unter den Islamisten-Gruppen El Kaida auszustechen.

Propaganda-Chef der Extremisten

Mastermind der professionellen Verbreitung von Hass-Botschaften könnte der in Syrien geborene Ahmad Abousamra sein. Der 32-Jährige, der auch die US-Staatsbürgerschaft hat, wuchs in Boston auf, wo er einen Universitätsabschluss in Informatik machte. Danach soll der Mann, den das FBI zu den meist gesuchten Terroristen zählt, in Pakistan und im Jemen zum rücksichtslosen Dschihadisten ausgebildet worden sein. Auf Abousamra, der fließend Englisch und Arabisch spricht, ist ein Kopfgeld in der Höhe von umgerechnet fast 40.000 Euro ausgesetzt.

Wie auf dem Schlachtfeld schießen die Ultra-Radikalen des IS auch auf dem Informationssektor aus allen Rohren. Laut dem Sender Sky News verbreiten sie ihre kruden Parolen und ekelerregenden Enthauptungsvideos allein auf Twitter auf mehr als 60.000 Accounts. Erschreckend: Nach der Ermordung des US-Journalisten James Foley wies in den ersten 24 Stunden danach angeblich jeder zehnte Tweet eine positive Tendenz gegenüber dem Schicksal des Reportes auf. Twitter-Chef Dick Costolo kündigte zwar an, alle Nutzer mit Verbindungen zu IS-Videos zu sperren. Doch schon wenig später tauchten diese mit ähnlichem Namen und derselben Propaganda wieder auf.

Kommentare