Als Flüchtling zwischen den Fronten im Hohen Haus

Vedran Dzihic: "Die Auseinandersetzung um die Flüchtlingsthematik zeigt den tiefen Riss, der durch die Gesellschaft geht"
So erlebte ein ehemaliger Betroffener die hitzige Asyldebatte im Parlament.

Er spricht von "Chaos", er beschreibt die Anarchie; und als Heinz-Christian Strache an diesem Donnerstag von einer "riesigen Völkerwanderung" erzählt, die über Österreich hinwegrollen und das Land möglicherweise zugrunde richten könnte, hört Vedran Dzihic genau zu.

Denn wenn der FPÖ-Chef von den Flüchtlingen erzählt, die aus dem Süden gen Europa drängen, dann meint er irgendwie auch ihn: Vedran Dzihic, 39, gebürtiger Bosnier, Kriegsflüchtling.

Es ist 22 Jahre her, da war der Wissenschaftler selbst Hilfesuchender. Als 16-Jähriger musste Dzihic aus Bosnien flüchten; neun Monate verbrachte er damals in Traiskirchen. Er ging zur Schule, maturierte, studierte, und machte sich als Sozialwissenschaftler einen Namen. Lehrtätigkeiten im In- und Ausland, 2006 der Bruno-Kreisky-Preis für das politische Buch. Er hat, man darf durchaus so sagen, als Wissenschaftler Karriere gemacht.

Aber wie geht es ihm, wenn er zuhört, wie heute über Flüchtlinge im Parlament gesprochen wird?

Was hält der ehemalige Kriegsflüchtling davon, wenn sich Parlamentarier bei einer Flüchtlingsdebatte derart beflegeln und stören, dass die Sitzung kurz unterbrochen wird und ob der heftigen Streitereien sogar über das Ansehen des Hohen Hauses diskutiert wird?

Der tiefe Riss

Die eine Antwort, das ist die des nüchternen Wissenschaftlers, des kühlen Analytikers, und die klingt so: "Die politische Debatte im Nationalrat spiegelt letztlich nur jenen tiefen Riss wider, der sich quer durch die gesamte Gesellschaft zieht."

Ein Riss? In Österreich? Im Land, das die Sozialpartnerschaft erfunden und den politischen Konsens über Jahrzehnte zur Staatsmaxime erkoren hat?

"Wir haben in Österreich heute zwei Lager", sagt Dzihic. "Diejenigen, die am Westbahnhof oder in Traiskirchen helfen, die Flüchtlinge aufnehmen und für sie sammeln. Und dann gibt es die, die genau das für falsch und gefährlich halten."

Zu Letzteren gehört Herbert Kickl. Die Grünen versuchen den Generalsekretär der FPÖ seit Minuten mit einer Spendenbox aus dem Konzept zu bringen, indem sie für jede blaue Lüge fünf Euro in die Box werfen. Kickl zetert über die "penetrante Form von Mildtätigkeit", zitiert dabei sogar das Matthäus-Evangelium; er wirft den Medien "Gehirnwäsche" und der Regierung "Verrat" an der Bevölkerung vor; und zu guter letzt verunglimpft er Abgeordnete der Regierungsparteien – also seine Parlamentskollegen – als "Claqueure", sprich: als nicht denkende, weil bezahlte, Klatschgäste.

Fliegende Fäuste

Es ist die Stelle, an der Beobachter Dzihic mehr sieht als nur eine scharfe Auseinandersetzung oder Polarisierung. Der gebürtige Bosnier sieht – zwar noch in weiter Ferne, aber doch – das Ende eines friedlichen Zusammenlebens: "Wenn jemand von der politischen Konkurrenz bis hin zu staatlichen Institutionen wie einem öffentlichen Rundfunk alles ganz grundsätzlich infrage stellt, dann stellt er damit am Ende auch die Demokratie zur Disposition." Es ist ein hartes Urteil, ohne Zweifel. Aber wir haben jetzt den Wissenschaftler gehört.

Was sagt der Mensch, der Flüchtling Dzihic? Kränkt oder sorgt ihn die Angst, die beim Flüchtlingsthema im Land vorhanden ist?

"Die Aggression ja", sagt der hochgewachsene Akademiker, der in früheren Jahren auf Bundesliga-Niveau Basketball gespielt hat. "Wenn sie diese Diskussion aus dem Parlament 1:1 an einem Wirtshaustisch führen, dann fliegen nach einer halben Stunde die Fäuste. Das garantiere ich ihnen."

Letztlich fühle er sich als Flüchtling aber trotzdem nicht abgelehnt oder ausgegrenzt. "Ich bin als Teenager hierher gekommen und wurde in der Schule und in den ersten Jahren in Eisenstadt herzlich aufgenommen. Österreich ist meine Heimat, das ist meine Gesellschaft."

Auch oder gerade weil er selbige in Gefahr sieht, wünscht sich Dzihic Engagement – und zwar von den Verteidigern der Demokratie.

"Es geht um die Frage, wie wir leben wollen. Wollen wir eine offene Gesellschaft – oder genau das Gegenteil?"

Und dann kommt wieder der Optimist zum Vorschein: "Vielleicht ist die schwelende Auseinandersetzung um das Flüchtlingsthema in unserem konsensverliebten Österreich sogar eine Chance."

Wie soll sie das sein? " Es geht um die Streitkultur. Im richtigen Maß kann sie einem Land sogar guttun."

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