Fall Kampusch: Staatsanwalt als Hellseher

Fall Kampusch: Staatsanwalt als Hellseher
Ein verdächtiger Freund von Entführer Priklopil änderte 2009 urplötzlich seine Version über die Vorgänge am Tag der Flucht des Opfers.

Vor einer Woche beschlossen die Parlamentsparteien einstimmig, den Entführungsfall Natascha Kampusch von ausländischen Experten neu bewerten zu lassen. Ein Hauptgrund: zu viele offene Fragen rund um mögliche Mittäter. Dabei gerät unweigerlich Ernst H. in den Fokus, der einzige Freund des toten Täters Wolfgang Priklopil. Er war von Ermittlern als der Komplizenschaft dringend verdächtig eingestuft worden, wurde von der Justiz jedoch nie belangt.

Aus neuen Unterlagen, die dem KURIER vorliegen, ergeben sich weitere brisante Aspekte. Einmal mehr wird das Verhalten der verantwortlichen Staatsanwälte, denen vom Parlaments-Unterausschuss "vollständiges Versagen" attestiert wird, problematisiert. Einmal mehr erscheint Ernst H. in einem fragwürdigen Licht.

Die Lebensbeichte

Fall Kampusch: Staatsanwalt als Hellseher

Ernst H. umgeben Ungereimtheiten und Rätsel, die der KURIER in den letzten eineinhalb Jahren offenbart hat. Rätselhaft ist auch folgende Episode, die sich nun rekonstruieren lässt. Ernst H. war der letzte Begleiter im Leben des Entführers Priklopil, der am 23. August 2006, nachdem Natascha Kampusch entkommen war, von einem Zug erfasst wurde und starb.

Ernst H. präsentierte den Behörden zunächst folgende Version: Priklopil habe ihm unmittelbar nach der geglückten Kampusch-Flucht erzählt, er sei auf der Flucht vor der Polizei, weil er angetrunken Auto gefahren sei.

Staatsanwalt Hans-Peter Kronawetter jedoch hielt in einem Bericht vom Juli 2008 eine völlig andere Version fest. Nämlich: dass der Entführer seinem Freund Ernst H. die ganze Tragweite seines Verbrechens gestanden haben muss. Und siehe da: Ernst H. änderte im November 2009 seine Alkohol-Variante ab – und wählt nun die Lebensbeichte-Variante.

Nur zur Verdeutlichung: Der offenbar mit hellseherischen Fähigkeiten ausgestattete Staatsanwalt hat schon mehr als ein Jahr vor dem Verdächtigen gewusst, wie sich der Verdächtige verantworten würde. Ein ehemaliger leitender Staatsanwalt meint dazu fassungslos zum KURIER: "Das wäre ja so, als hätte ich einen Mordverdächtigen und würde die Ermittlungen einstellen mit der Begründung, der wird sich irgendwann auf Notwehr berufen."

Das Vorgehen von Staatsanwalt Kronawetter wirft Fragen auf: Warum hat er in seinem Bericht vom Juli 2008 dem Verdächtigen eine völlig andere Version zugedacht als die von Ernst H. vor den Behörden präsentierte? Wie konnte der Staatsanwalt überhaupt wissen, ob und wie der Verdächtige ein Jahr später seine Version ändern würde? Wieso wird just in einem derart heiklen Kriminalfall vonseiten eines Staatsanwaltes mit offensichtlichen Spekulationen operiert? Dazu wollte sich Kronawetter trotz mehrfacher Anfragen in den letzten Tagen nicht äußern.

Der Prozess

Ludwig Koch, der Vater von Entführungsopfer Natascha, hat – ungeachtet der jüngsten Entwicklungen rund um neue Untersuchungen – Ernst H. verklagt. Koch verlangt Schadenersatz für psychische Qualen, die er durch die achtjährige Absenz seiner Tochter erlitten haben will, er fordert 35.000 Euro. Der Prozessbeginn war für den 13. Juli angesetzt, wurde nun auf Ende August verschoben.

Im Schriftsatz von Kochs Anwalt Dietmar Heck (Kanzlei Boran) heißt es unmissverständlich: "Der Beklagte (also Ernst H., Anm.) war aktiv an der Planung und Durchführung der Entführung von Natascha Kampusch beteiligt." Auf den 20 Seiten werden zahlreiche Gründe für diese Behauptung angeführt und insgesamt mehr als 40 Zeugen zur Ladung genannt, darunter auch Natascha Kampusch.

Die Replik

Bemerkenswert ist die Replik auf Kochs schwerwiegende Anschuldigungen. In dem zweiseitigen Papier fordert Ernst H. (vertreten durch Staranwalt Manfred Ainedter) die Klagsabweisung wegen "Unschlüssigkeit der Klage" und die Einholung eines Gutachtens über die angeblichen psychischen Schäden von Ludwig Koch.

Dem konkreten Vorwurf der Mittäterschaft bzw. Mitwisserschaft am schweren Verbrechen der Entführung wird hingegen in diesem Schriftsatz mit keinem Wort entgegengetreten.

Kurios: Ankläger in der Defensive

Hans-Peter Kronawetter war zuständiger Sachbearbeiter im Fall Kampusch. Er und vier weitere hochrangige Ankläger (darunter der ermittelnde Staatsanwalt Mühlbacher und Oberstaatsanwalt Pleischl) gerieten unter Verdacht des Amtsmissbrauchs. Ein entsprechendes Verfahren der Staatsanwaltschaft Innsbruck wurde Ende 2011 eingestellt. Danach beschäftigte sich ein eigener Unterausschuss im Parlament mit dem Kriminalfall und der Rolle der Staatsanwälte. Einhelliges Fazit der Parlamentarier: Zu viele Ungereimtheiten, schwere Mängel im Ermittlungsverfahren. Nun sollen FBI und das deutsche Bundeskriminalamt den Fall evaluieren. 

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