Wehrschütz: "Oft passieren doch noch Wunder"

Christian Wehrschütz wurde am Mittwoch zum Journalisten des Jahres gekürt.
Der Ukraine-Experte und "Journalist des Jahres" über den Friedensdeal mit Schwächen.

Die Minsker Friedensverhandlungen musste Christian Wehrschütz auslassen. Am Mittwoch wurde der ORF-Korrespondent in Wien als Journalist des Jahres ausgezeichnet. Danach kehrte er gleich wieder nach Donezk zurück. Für den KURIER analysiert der ORF-Korrespondent die Eckpfeiler des Minsker Friedensplans und ob dieser überhaupt eine Chance auf Umsetzung hat.

KURIER: Herr Wehrschütz, seit heute Nacht soll in der Ostukraine Waffenstillstand herrschen. Am Freitag und gestern gab es nach wie vor heftige Kämpfe. Glauben Sie noch an den Waffenstillstand?

Christian Wehrschütz: Es steht sehr viel auf dem Spiel. Wenn der Waffenstillstand nicht zustande kommt, wäre es ein Fiasko. Allerdings glaubte am Samstagnachmittag hier in Donezk keiner der Zivilisten daran. Die Innenstadt wurde gestern Nachmittag heftig beschossen, so heftig wie noch nie zuvor. Nur 500 Meter von meinem Hotel entfernt gab es Schüsse. Ich habe zwei Tote gesehen, die Agenturen sprechen von mindestens fünf. Aber oft passieren im letzten Moment doch noch Wunder.

Wissen Sie, von welcher Seite die Aggression ausgeht?

Das kann ich nicht beurteilen. Tatsache ist nur, wenn an einem sonnigen Samstagnachmittag das Zentrum unter Beschuss genommen wird, dann nimmt man zivile Opfer bewusst in Kauf. Zynisch kann man die Situation nur so beschreiben: Der Kommandant will die letzte Munition noch vor dem Waffenstillstand verschießen. Oder man will eben den Waffenstillstand ganz bewusst nicht zustande kommen lassen.

Am Donnerstag herrschte große Euphorie nach dem Friedensdeal, doch nun werden die Schwachpunkte der Vereinbarung immer sichtbarer. Wie beurteilen Sie das Ergebnis der 17-Stunden-Verhandlungen in Minsk?

In die Minsker Verhandlungen wurde sehr viel persönliches Prestige gelegt. Aber wir waren schon nach den ersten Minsker Verhandlungen am 12. September voller Hoffnung, und es hat nichts gebracht. Wir sind alle so weit entfernt von dem Spiel, in dem mit so vielen Bällen gespielt wird, dass eine Prognose sehr schwer ist.

In jedem Punkt der Vereinbarung gibt es genügend Fallstricke, die wieder zu Streit führen könnten. Im Vergleich zur ersten Minsker Vereinbarung im September 2014 schaffte man eine detaillierte Vereinbarung mit einem detaillierteren Zeitplan, wann welche Vereinbarung umgesetzt sein sollte. So wurde eine Pufferzone geschaffen, die Gelände-Gewinne kaschiert, aber auch gleichzeitig berücksichtigt. Die ukrainische Seite muss ihre schweren Waffen von der derzeit faktischen Kriegslinie abziehen, während die pro-russische Seite mit ihren schweren Waffen hinter die vereinbarte Waffenstillstandslinie vom 12. September zurück muss. Es gibt auch unterschiedliche Weiten des Rückzuges je nach Schwere der Waffen, die von 50 bis 140 Kilometer von der ukrainische Seite reichen. Das ist einmal ein Ansatz, um eine gewisse Ruhe in den Gebieten zu schaffen. Die anderen Punkte sehen eine breite Autonomie in der lokalen Selbstverwaltung mit der Möglichkeit einer grenzüberschreitenden Zusammenarbeit mit Russland vor. Und es gibt den Plan, dass nach Umsetzung der Punkte Ende 2015 wieder eine Grenzkontrolle durch die ukrainische Seite umgesetzt werden soll.

Angela Merkel hat die Rolle Putins bei den Minsker Verhandlungen ausdrücklich gelobt. Sehen Sie eine kleine Annäherung zwischen Russland und der EU, auch wenn der vereinbarte Waffenstillstand am Samstagnachmittag wackelte?

Klar ist, Putin hat kein Interesse mehr an der Verschärfung des Konflikts, weil es mit extrem hohen Kosten verbunden ist. Da sind einerseits die Sanktionen, aber da ist andererseits auch die verheerende soziale Lage der Menschen in den pro-russischen Regionen. Da die Ukraine keine Pensionen mehr bezahlt und alle Sozialleistungen eingestellt hat, sind diese Regionen von Russland abhängig. Denn mit Ruinen kann ich schwer Autonomie spielen. Ein Punkt, der sehr viel Zukunftsmusik in sich hat, ist die Vereinbarung eines Wirtschaftsraumes vom Atlantik bis zum Pazifik. Das bietet der EU ein Dach, die EU-Annäherung der Ukraine abzufedern, indem man Russland in den Wirtschaftsraum einbezieht.

Dann haben die Sanktionen aus Ihrer Sicht doch Wirkung gezeigt…

Sie waren ein unvermeidliches Übel, weil die EU auf die Vorfälle in der Ostukraine reagieren musste, auch wenn sie sich selbst dabei ins Knie schießt. Die Sanktionen waren notwendig, aber diese Maßnahme alleine hat nicht zur Verhaltensänderung Russlands geführt. Viel stärker hat das russische Budget die Senkung des Ölpreises und der Rubelverfall belastet. Ich nehme an, dass die Sanktionen bald wieder gelockert werden. Denn Handelsströme lassen sich relativ schnell ändern. Dem österreichischen Apfelbauern hilft eine Aufhebung nichts in zwei Jahren, denn da werden die Äpfel schon längst aus einem anderen Land nach Russland geliefert.

Eine Lösung für die Krim gibt es in dem Deal allerdings nicht. Hat man die Krim damit schon komplett aufgegeben?

Bei dem Deal ist nix fix. Auch die Annexion des Baltikums durch die UdSSR hat man seinerzeit nie anerkannt. Die Krim rührt man derzeit in den Verhandlungen nicht an, weil man in der Ostukraine ohnehin schon genug Probleme hat. Im Moment sehe ich keine Tendenz, dass sich bei der Krim irgend etwas ändern wird. Auch wenn die Krim sehr stark isoliert ist. Die Ukraine blockiert alle Züge auf die Krim, es gibt keinen Busverkehr, die Wasserversorgung läuft auch über die Ukraine und die Lebensmittelversorgung passiert derzeit nur über die Fähre und die fährt nur unregelmäßig.

Was will Putin?

Ich stelle eine Gegenfrage: Ist Ihnen ein Konzept der EU aufgefallen? Die Ukraine ist nun seit 23 Jahren unabhängig, aber bis heute gibt es keine Idee der EU, was mit diesem Gebilde Ukraine angefangen werden soll. Dagegen erscheint mir der russische und der amerikanische Ansatz in weiten Fällen sehr klar zu sein. Seit der Sicherheitskonferenz 2007 weiß man, wie wichtig Putin ist. Da hat Putin seine Brandrede gehalten, nur hat da keiner zugehört. Von da an war klar, wenn die NATO-Osterweiterung so weitergeht, wird Russland reagieren. Wir hatten einen Kosovo oder ein Georgien. Ich kann mit der großen Überraschtheit nichts anfangen. Die Ukraine hat für Russland eine größere Bedeutung als für die USA. Sie wollen sicher eine langfristige Einflusssicherung auf die Ukraine haben – davon steht in dem Kompromiss nichts.

Wenn heute der Waffenstillstand nicht hält, war der Gipfel umsonst…

Umsonst war nichts, aber er war vergebens.

Was wären die Konsequenzen?

Die Waffenlieferung der USA an die Ukraine und eine weitere Eskalation des Konflikts. Einen weiteren Versuch, einen Waffenstillstand auszuhandeln, wird es auch nicht geben.

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