Ukraine: Präsidentenwahl nicht landesweit möglich

Ukrainer halten die Nationalflagge hoch in Chernivtsi.
Kreml ordnet Truppenabzug an, NATO sieht neue Bedrohung.

Zum wiederholten Mal hat der russische Präsident Wladimir Putin am Montag angekündigt, die russischen Truppen nahe der ukrainischen Grenze abzuziehen. Die Frühjahrsmanöver auf den Übungsplätzen Brjansk, Rostow am Don und Belgorod seien abgeschlossen, teilte der Kreml mit. Die NATO aber sah am Montag auf Satellitenbildern noch keine Hinweise darauf, dass die Truppen tatsächlich abgezogen würden. Schätzungen zufolge stehen 40.000 russische Soldaten an der Grenze zur Ukraine.

Die NATO muss nach Ansicht ihres Generalsekretärs Rasmussen mit neuen Verteidigungsplänen und „angemessenen Stationierungen“ auf eine „völlig neue Sicherheitslage in Europa“ reagieren. Das Bündnis werde seine „Fähigkeit zu schneller Reaktion auf jegliche Bedrohung auch ohne Vorwarnzeit“ stärken, kündigte Rasmussen in Brüssel an.

„Was wir in der Ukraine gesehen haben, ist unglaublich“, sagte er. „Es ist klar, dass die illegalen russischen Militäraktionen in der Ukraine eine völlig neue Sicherheitslage in Europa geschaffen haben.“

Nicht überall Wahlen

Der Westen wirft Russland vor, die für Sonntag geplante Präsidentenwahl in der Ukraine torpedieren zu wollen. Sollte der Urnengang in der Ostukraine, die sich nach dem Referendum vom 11. Mai als von Kiew abgespalten betrachtet, nicht stattfinden, würde das die Legitimität des neuen Staatschefs in Frage stellen. Aber sogar die Regierung in Kiew räumte gestern ein: Wegen der unruhigen Lage könne die Wahl nicht im ganzen Land stattfinden. In weiten Teilen von Donezk und Lugansk sei kein Urnengang möglich, bestätigte Innenminister Awakow.
Die „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk stellten klar, das Ergebnis der Präsidentenwahl am Sonntag nicht anzuerkennen.

Wie Putin die Wahl hinnehmen wird, ist Gegenstand der Spekulation. Die deutsche Bundeskanzlerin Merkel forderte ihn telefonisch auf, den Ausgang der Präsidentenwahl zu respektieren. Merkel begrüßte den Beginn des nationalen Dialogs in der Ukraine und die ersten Verhandlungen am Runden Tisch. Das ermögliche es allen, die sich klar von Gewalt distanzieren, über die Zukunft einer einheitlichen Ukraine zu diskutieren.

Putin betonte bei dem Telefonat mit Merkel nach Angaben des Kreml, dass er in einer Verfassungsreform in der Ukraine einen Weg aus der Krise sehe. An diesem Dienstag will er den Konflikt mit UN-Generalsekretär Ban Ki- moon erörtern. Ban hält sich in Shanghai auf, Putin beginnt an diesem Dienstag einen Besuch in China.

In den Augen von Nina L. Chruschtschowa, Urenkelin des einstigen Sowjet-Partei- und Regierungschefs Nikita Chruschtschow, resultiert das Handeln des Kreml-Chefs Wladimir Putin aus dessen KGB-Erziehung. "Stalin ist sein Held", sagte die in den USA lehrende Historikerin bei der Präsentation ihres Buchs über Großvater Leonid in Wien. Der russische Staatschef hat mehrfach kritisiert, dass ihr Großvater Nikita Chruschtschow die Krim 1954 der Ukraine überließ, die Halbinsel sozusagen "verschenkte", rief die Chruschtschow-Enkelin in Erinnerung. Mit der Annexion der Krim vermeinte Putin den Russen "ihren Stolz zurückgegeben zu haben". Jetzt befinde sich der Kreml-Chef "fast an den Toren Europas", wie Chruschtschowa es ausdrückte.

Europa sei gefordert, Führungsstärke zu zeigen. Es gelte, einen Dialog, "Verhandlungen ohne Waffen zu führen", sagte Chruschtschowa. Die NATO stelle keine Bedrohung dar. Die Autorin, die an der New School University in New York das Fach Internationale Beziehungen unterrichtet, erinnerte daran, dass Putin, als er an die Macht kam, selbst erklärt hatte, die NATO bedeute keine Gefahr, denn Russland sei ein europäisches Land.

Unter Kontrolle

Die amerikanisch-russische Politikanalystin hat den Eindruck, dass die Chemie zwischen den beiden Großmachtführern Wladimir Putin und Barack Obama nicht wirklich stimmt. "Putin und Obama können nicht miteinander." Putin habe mit Minderheiten keine Freude, das habe sich auch im Tschetschenien-Konflikt gezeigt. Obama wiederum wolle von allen geliebt werden und sei beunruhigt, "weil Putin ihn nicht mag". Den Hang, alles kontrollieren zu wollen, hätten beide gemeinsam.

"Putin will es den Amerikanern zeigen", analysiert Chruschtschowa die politische Befindlichkeit. Dahinter stehe der Gedankengang: Wenn die Amerikaner sogar ihre Freunde ausspionieren, wenn sie im Irak Krieg führen, warum sollten die Russen dann nicht auch auf der Krim und in der Ukraine tätig werden. Putin praktiziere ein "Top down system" (von oben nach unten). Am Schluss des Buches stelle sie selbst die Frage, ob Russland jemals eine Demokratie werden könne, so die Autorin.

Der "geistige Gulag"

Chruschtschowa betitelt ihr Buch "The lost Khrushchev – A journey into the Gulag of the Russian Mind". Der "verlorene Chruschtschow" – damit meint sie ihren Großvater Leonid, der 1943 als Kampfpilot abstürzte. Die Sowjets schufen die Legende, dass er überlebt, desertiert und mit den Nazis kollaboriert habe, schließlich gefasst und als "Verräter" unter Stalin hingerichtet wurde. Wie Stalins mächtiger Außenminister Wjatscheslaw M. Molotow ihr als Kind ins Gesicht sagte, dass diese Verräter-Version "Quatsch" sei – das stellt die Autorin an den Beginn ihres Werks. Sie kommt zu dem Schluss: "Wenn man etwas über den Kreml schreibt, lügt jeder."

Jetzt hat Chruschtschowa diesen bisher ungeklärten Teil ihrer Familiengeschichte aufgearbeitet. Das Buch enthält auch zahlreiche Fotos des Chruschtschow-Clans. Eingehend analysiert die Autorin den russischen Charakter und den "geistigen Gulag", wie der zweite Teil des Buchtitels besagt, und den ein Kritiker als "Neigung zu Despotismus und Paranoia" bezeichnet. Sie widmet das Buch ihrer Mutter Julia, über die sie schreibt: "Auch meine Mutter war ein Produkt des Gulag, nicht seiner physischen Brutalität, aber seiner Geisteshaltung."

Chruschtschowas Recherchen an Originalschauplätzen und ihre Gespräche mit Zeitzeugen führen herauf bis in die Putin-Ära. "Als modernen Zar, der im Namen traditioneller Werte regiert, westliche Dekadenz ablehnt" (Stichwort feministische Band Pussy Riot) und der ein neo-sowjetisches Land vor Augen habe, beschreibt sie den russischen Präsidenten im Buch. Auch die Olympischen Spielen in Sotschi trifft Kritik: Beim Medaillenregen für die Russen sei viel manipuliert worden und die ökologischen Schäden seien noch nicht abzuschätzen, betonte sie bei ihrem Wien-Auftritt.

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