Türkei: Flüchtlingswelle wegen "Hexenjagd" möglich

Präsident der Türkei: Recep Tayyip Erdoğan.
Es könne allerdings sein, dass bis zu einer größeren Fluchtbewegung noch einige Zeit vergeht, sagte Bernd Mesovic von Pro Asyl.

Wegen der massenhaften Verfolgung von Erdogan-Gegnern nach dem Putschversuch in der Türkei rechnet die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl mit der Zuwanderung von Flüchtlingen aus der Türkei . „Wenn sich die Lage weiter verschlechtert und die Hexenjagd gegen jegliche Opposition in der Türkei weitergeht, dann wird es eine Flüchtlingsbewegung Richtung Europa geben“, sagte der stellvertretende Geschäftsführer von Pro Asyl, Bernd Mesovic, der Neuen Osnabrücker Zeitung (Mittwochsausgabe).

In diesem Fall rechnet Mesovic damit, dass Deutschland aufgrund der vielen hierzulande bereits lebenden Menschen türkischer Abstammung eines der Ziele sein könnte. Allerdings könne es sein, dass bis zu einer größeren Fluchtbewegung noch einige Zeit vergeht: „Solange Menschen Hoffnung auf Veränderung haben, bleiben sie in ihrem Land.“

Dies könnte auch auf Österreich zutreffen. Laut Daten der Medienservicestelle Neue ÖsterreicherInnen (MSNÖ) vom November 2015 leben hierzulande rund 115.000 türkische Staatsbürger, über 260.000 Personen haben türkischen Migrationshintergrund.

Sicherheitsrat tagt

Der Nationale Sicherheitsrat kam am Mittwoch in Ankara zu einer Sondersitzung unter dem Vorsitz von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan zusammen. Anschließend wollte Erdogan eine Sitzung des Kabinetts leiten. Erdogan hatte zuvor angekündigt, bei den Sitzungen werde eine „wichtige Entscheidung“ fallen. Zu Details äußerte er sich nicht.

Vize-Ministerpräsident Nurettin Canikli sagte nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu, die neuen Maßnahmen sollten dazu dienen, dass der Staat noch effektiver von Anhängern der Gülen-Bewegung „gesäubert wird“. Es werde aber „keinen Ausnahmezustand“ oder dergleichen geben. Canikli versicherte, alle Maßnahmen würden sich im Rahmen des Rechtssystems bewegen.

Im Sicherheitsrat sind neben Erdogan und Ministerpräsident Binali Yildirim auch Kabinettsmitglieder und Militärführer vertreten, darunter Armeechef Hulusi Akar. Akar war von den Putschisten aus den Reihen des Militärs gefangen genommen und später befreit worden. Die Ratssitzung im Präsidentenpalast begann mit mehr als zweistündiger Verspätung, wie die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu meldete.

"Säuberungsaktion" zieht weitere Kreise

Nach Verhaftungs- und Suspendierungswellen in der gesamten Türkei zieht die „Säuberungsaktion“ von Präsident Erdogan immer weitere Kreise. Am Mittwoch sind weitere 900 Polizeibeamte in der Hauptstadt Ankara suspendiert worden. Das teilte ein Regierungsbeamter am Mittwoch mit. Bereits am Montag wurden nach dem gescheiterten Putschversuch im gesamten Land rund 8.000 Polizisten vorübergehend ihres Amtes enthoben. Sie werden verdächtigt, in den gescheiterten Putschversuch von Freitagnacht involviert gewesen zu sein.

Einen Überblick über die "Säuberungs"-Maßnahmen der letzten Tage finden Sie hier.

Auslandsreisen verboten

Ebenfalls am Mittwoch wurden allen Uni-Mitarbeitern jegliche Auslandsreisen „bis auf Weiteres“ verboten. In Ankara tagt unterdessen erstmals nach dem gescheiterten Putschversuch der nationale Sicherheitsrat. Bereits am Dienstag verloren 21.000 Lehrer an Privatschulen ihre Lehrerlaubnis, rund 1.600 Hochschuldekane wurden zum Rücktritt aufgefordert, während im Bildungsministerium 15.200 Personen suspendiert wurden. Am Mittwoch untersagte dann der türkische Hochschulrat allen Universitätslehrkräften und Wissenschaftern Reisen ins Ausland. Uni-Mitarbeiter, die sich bereits zu Dienst- oder Forschungsaufenthalten im Ausland aufhielten, sollten überprüft werden und „so schnell wie möglich“ in die Heimat zurückkehren, meldete die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu.

Überprüfung

Erdogan verdächtigt seinen einstigen Verbündeten Fethullah Gülen, hinter dem Putschversuch vom vergangenen Wochenende zu stehen - der in den USA lebende islamische Prediger weist die Vorwürfe zurück. Den entlassenen und suspendierten Beamten wirft die türkisch Führung Verbindungen zur Gülen-Bewegung vor. Sie betreibt zahlreiche Privatschulen.

Der Hochschulrat rief alle Hochschulrektoren auf, ihre Mitarbeiter im Lehrbetrieb und in der Verwaltung auf etwaige Verbindungen zur Gülen-Bewegung zu überprüfen. Das gelte auch für ausländisches Lehrpersonal. Ihre Berichte würden bis zum 5. August erwartet. Aus Regierungskreisen hieß es, es handle sich um eine vorübergehende Maßnahme. Damit solle die Flucht von „angeblichen Komplizen der Umstürzler in Universitäten“ verhindert werden.

Zugang zu Wikileaks gesperrt

Türkische Behörden haben den Zugang zur Enthüllungsplattform Wikileaks gesperrt, nachdem sie angebliche E-Mails der Regierungspartei AKP im Netz veröffentlicht hatte. Die knapp 295 000 E-Mail-Nachrichten reichen Wikileaks zufolge vom Jahr 2010 bis zum 6. Juli dieses Jahres. Mehr dazu haben die Kollegen der Futurezone hier.

Die Veröffentlichung sei angesichts des harten Vorgehens der Behörden nach dem Umsturzversuch vom vergangenen Wochenende vorgezogen worden, erklärten die Aktivisten auf ihrer Website. Die Quelle für das Material aus dem Datenleck stamme nicht aus dem Umfeld der Putschisten. Der Enthüllungswert der Veröffentlichung blieb zunächst unklar: Unter den E-Mails finden sich zahlreiche Newsletter und Spam-Nachrichten.

EU-Kommission tief besorgt

Die EU-Kommission hat sich tief besorgt über die Entwicklung in der Türkei nach dem gescheiterten Putsch und folgenden Verhaftungen von Militärs, Polizei und Richtern sowie der Entlassung von tausenden Lehren geäußert. "Wir beobachten die Situation aufmerksam und mit großer Besorgnis", erklärte der Vizepräsident der EU-Kommission, Maros Sefcovics.

Die Türkei sei ein Beitrittskandidat und "ein wichtiger Partner für die EU". Deshalb wolle die EU weiterhin mit einer demokratisch integrativen Türkei zusammenarbeiten.

Deutsche Regierung sieht Rechtsstaat in Gefahr

Die Bundesregierung in Deutschland beobachtet das Vorgehen der türkischen Regierung gegen mutmaßliche Sympathisanten der Putschisten mit wachsender Sorge. „Fast täglich kommen neue Maßnahmen hinzu, die einem rechtsstaatlichen Vorgehen widersprechen“, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert am Mittwoch in Berlin. Die Reaktionen auf den vereitelten Putsch seien unverhältnismäßig.

Die Bundesregierung habe ihre Sorge darüber auch gegenüber der türkischen Regierung zum Ausdruck gebracht, betonte Seibert - in einem Gespräch von Kanzlerin Angela Merkel mit Staatspräsident Erdogan am vergangenen Montag „und auch auf anderem Wege“.

Entlassungswelle verurteilt

Die European University Association (EUA) verurteilte die Entlassungswelle. „Die EUA verurteilt diese Aktionen gegen Universitäten und deren Mitarbeiter scharf und bedingungslos und versichert den Hochschulangehörigen in der Türkei ihre aufrichtige Unterstützung in diesen Zeiten“, heißt es in der Aussendung. Die Türkei brauche nach dem versuchten Militärputsch mehr als je zuvor Redefreiheit, öffentliche und offene Debatten, wie diese an den Unis gepflegt würden. Die EUA rief deshalb alle Regierungen, Universitäten und Wissenschafter Europas dazu auf, ihre Stimme gegen die aktuellen Entwicklungen zu erheben.

Insgesamt wurden seit dem fehlgeschlagenen Putsch von Freitagabend rund 50.000 Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes entlassen oder suspendiert, darunter tausende Richter und Staatsanwälte. Mehr als 8.500 Menschen wurden festgenommen. Bei dem Putschversuch des Militärs wurden rund 300 Menschen getötet.

Ad-hoc-Monitoring- Group

Angesichts der Entwicklungen in der Türkei forderte der ÖVP-Delegationsleiter im EU-Parlament, Othmar Karas, die Errichtung einer „Ad-hoc-Monitoring- Group“ von EU und Europarat zur Überwachung der Einhaltung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), der EU- Grundrechtecharta und der Kopenhagener Kriterien. Diese Beobachtergruppe solle die Türkei permanent überwachen und halbjährlich an das Parlament und die Kommission Bericht erstatten, denn die europäischen Institutionen seien das „einzige Korrektiv und der einzige Rest von Kontrolle, die Erdogan noch hat. Wir dürfen die Türkei nicht in eine Richtung abdriften lassen, die uns noch weniger gefällt, als das, was wir jetzt sehen“, so Karas in einer Aussendung.

Die außenpolitische Sprecherin der Grünen, Tanja Windbüchler, forderte eine Stärkung der demokratischen Kräfte in der Türkei. "Jetzt ist es wichtiger denn je, den demokratischen Kräften in der Türkei den Rücken zu stärken. Andernfalls haben wir es bald mit einer Türkei zu tun, die die Opposition völlig ausgeschaltet hat", meinte sie in einer Aussendung.

Kommentare