Türkei: Ende der EU-Gespräche einfacher als gedacht

Laut dem Verhandlungsrahmen von 2005 reicht die qualifizierte Mehrheit bei ernsthafter und anhaltender Verletzung von Demokratie und Menschenrechten

Die EU-Staaten haben 2005 im Verhandlungsrahmen für die Beitrittsgespräche mit der Türkei eine Ausstiegsklausel vereinbart, die bei einer schweren Verletzung von Grundrechten in der Türkei zu einem Ende der Gespräche führen kann. Gleichwohl will die EU-Kommission die Beitrittsverhandlungen weiterführen, wie ihr Chef, Jean-Claude Juncker, zuletzt mehrfach betont hat.

Zu Beginn der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei haben die damals 25 EU-Staaten im Jahr 2005 einen neuseitigen Verhandlungsrahmen mit Ankara festgesetzt. Auf Drängen Österreichs wurde damals auch die "Aufnahmekapazität" der EU neben den demokratie-politischen Kopenhagener Kriterien für EU-Kandidatenländer als Voraussetzung für eine EU-Mitgliedschaft festgeschrieben. Und es wird betont, dass die Türkei "durch die stärkst mögliche Anbindung" in den europäischen Strukturen "voll verankert" werden müsse, selbst wenn Ankara nicht die Verpflichtungen einer EU-Mitgliedschaft voll erfüllen könne.

Ausstiegsklausel

Unter Punkt 5 der "Grundsätze, welche die Verhandlungen leiten", ist in dem Mandat die Ausstiegsklausel für die Gespräche vereinbart. Hier heißt es: "Im Fall einer ernsthaften und anhaltenden Verletzung in der Türkei der Grundsätze der Freiheit, der Demokratie, der Achtung für Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Rechtstaatlichkeit, auf denen die Union gegründet ist, wird die (EU-)Kommission, auf eigene Initiative oder auf Anfrage eines Drittels der Mitgliedstaaten, die Suspendierung der Verhandlungen empfehlen und die Bedingungen für eine eventuelle Wiederaufnahme vorschlagen."

Der Ball liegt demnach nicht ausschließlich bei der EU-Kommission, sondern zehn der derzeit 28 EU-Staaten - oder neun einer EU ohne Großbritannien - könnten die Initiative für ein Einfrieren der Gespräche ergreifen. Die Rede ist außerdem von der "Suspendierung", nicht vom völligen Abbruch der Verhandlungen.

Hat die EU-Kommission einmal einen Vorschlag unterbreitet, so sieht der Verhandlungsrahmen weitere Schritte vor: "Der Rat wird mit qualifizierter Mehrheit über eine solche Empfehlung entscheiden, nachdem die Türkei angehört wurde, ob die Verhandlungen suspendiert werden und über die Bedingungen für eine Wiederaufnahme."

Qualifizierte Mehrheit

Anders als bei allen anderen Entscheidungen in Beitrittsverhandlungen, die von den EU-Staaten stets einstimmig getroffen werden müssen, reicht also bereits eine qualifizierte Mehrheit im EU-Ministerrat aus, um die Gespräche mit Ankara einzufrieren. Eine "qualifizierte Mehrheit" erfordert mindestens 55 Prozent der EU-Mitgliedstaaten, die zusammen wiederum mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren müssen. In der Praxis müssen mindestens 16 der EU-Staaten zustimmen.

Wie sich eine "qualifizierte Mehrheit" zusammensetzt, kann jeder mit dem Rechner der EU selbst herausfinden.

Ausdrücklich steht in dem Verhandlungsrahmen noch einmal drinnen, dass für den Ausstieg keine Einstimmigkeit erforderlich wäre: "Die Mitgliedstaaten handeln in der Regierungskonferenz (d.h. bei den Beitrittsverhandlungen, Anm.) in Übereinstimmung mit der Ratsentscheidung, ohne Voreingenommenheit auf das allgemeine Erfordernis für Einstimmigkeit in der Regierungskonferenz. Das Europäische Parlament wird informiert."

Besonders Österreich für Abbruch

Nach dem gescheiterten Putsch von Mitte Juli in der Türkei hat sich Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) für einen Abbruch der EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei ausgesprochen. Seit dem Putschversuch mit 240 Toten wird in der Türkei zudem über die Wiedereinführung der Todesstrafe debattiert - für die EU würde das voraussichtlich das Ende der Gespräche über einen EU-Beitritt bedeuten.

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