Bolivien: Rettungsanker im Überlebenskampf

In El Alto, oberhalb der bolivianischen Hauptstadt La Paz, leben 70 Prozent unter der Armutsgrenze.
Gelder der heimischen Sternsingeraktion ermöglichen den Kleinen eine bessere Zukunft.

Wenn es dunkel wird, kommen sie hoch – aus der bolivianischen Hauptstadt La Paz nach El Alto, weil hier in dem riesigen Armenviertel auf 4000 Meter Seehöhe der käufliche Sex noch um eine Spur billiger ist. "Straße der Sünde" wird die Meile genannt, in der sich Puff an Puff reiht und Männer anlockt.

Trotz spärlicher Beleuchtung ist der Dreck in der Gosse erkennbar, die Gestalten, die sich um mobile Standeln scharen, weniger. Dort tanken sie Kraft für später – in Form von "Maca". Das "bolivianische Viagra" ist ein Konzentrat aus der gleichnamigen Knolle. Dann verschwindet ein Freier nach dem anderen in einem der muffigen Etablissements.

Sechs bis sieben Männer muss jedes der Mädchen pro Nacht über sich ergehen lassen. Gerade einmal 30 Prozent des Schandlohnes von umgerechnet drei bis sechs Euro bleibt ihnen, den Rest streifen die Zuhälter ein. Doch viele junge Frauen, oft noch Kinder, haben hier keine andere Wahl. Es gibt kaum Jobs, und das Elend begegnet einem auf Schritt und Tritt: In El Alto leben 70 Prozent der rund eine Million Einwohner unter der Armutsgrenze. Drogenbarone haben sich breitgemacht, die Kriminalität ist enorm.

Ein Mühlviertler hilft

In diesem Biotop von sex and drugs kommen viele unter die Räder. Besonders prekär ist die Situation der zahlreichen Straßenkinder, die in diesem Ambiente groß werden. Carlos (Name geändert) ist einer von ihnen. Statt in die Schule zu gehen, versucht der 13-Jährige, als Autoscheibenwascher ein paar Bolivianos zu verdienen. Doch das reicht bei Weitem nicht, hat er die Gelegenheit, fischt er auch schon einmal ein Handy aus einer Handtasche. Und stets hat der Jugendliche ein kleines Fläschchen dabei: Mit Klebstoffgasen wird die Tristesse des Alltags weggeschnüffelt.

Bolivien: Rettungsanker im Überlebenskampf
Bolivien, Straßenkinder
Ein belebter Platz im Zentrum von El Alto. Martin Berndorfer steuert auf eine Gruppe von Straßenkindern zu. Die jungen Leute kennen den Mühlviertler gut und begrüßen ihn herzlich. Er fragt sie, ob sie heute schon gegessen hätten. Nach ein paar aufmunternden Worten lädt sie der 37-Jährige in das von ihm gegründete Kinderschutzzentrum "Maya Paya Kimsa" ein. Dieses wird von der Dreikönigsaktion, dem Hilfswerk der Katholischen Jungschar, aus Mitteln der Sternsinger-Aktion unterstützt(siehe auch unten).

"Tauchgänge"

"Als Tauchgänge bezeichnen wir diese Kontaktaufnahme in den Straßen", sagt der Sozialarbeiter, der mit seinen acht Mitstreitern in der Organisation auch Fußballmatches organisiert – "dabei lernen die Kinder und Jugendlichen gleichsam spielerisch Fairness, Teamgeist, aber auch die Einhaltung von Regeln, und sie haben Erfolgserlebnisse."

Im Zentrum, dessen Eingangstüre mit vier Schlössern gegen Einbrecher gesichert ist, wird gewuzelt, gekickt, Bingo gespielt, getrommelt. Mädchen lackieren einander die Fingernägel. Das abgeschirmte Areal wirkt wie eine Oase des Friedens, während draußen der Überlebenskampf tobt. Getrennt nach Geschlechtern werden auch heikle Fragen der Sexualität, Empfängnisverhütung und Aids-Prävention angesprochen. "Ziel ist es, die Kinder von der Straße wegzubringen und sie entweder bei ihren Familien zu reintegrieren oder sie sanft auf einen Heimplatz vorzubereiten", betont Berndorfer, der seit zwölf Jahren in Bolivien lebt. 237 Fälle habe man im Vorjahr betreut, 125 hätten zumindest versucht, das heiße Pflaster El Altos für immer zu verlassen.

Erfolgsstory

Das ist dem heute 17-jährigen Jose Luis Salazar in beeindruckender Weise gelungen. "Mein Stiefvater hat mich nur als unnötigen Kostenfaktor gesehen. Ich habe keine neue Kleidung bekommen, sogar die Schuhe hat er mir weggenommen. Schläge standen sowieso an der Tagesordnung", erzählt der junge Mann. Mit zwölf Jahren konnte er es nicht mehr ertragen und nahm Reißaus.

Die kalten Nächte verbrachte er in irgendwelchen Holzverschlägen oder Häusernischen. Ein bisschen Geld verdiente er sich als Schreier vor Minibus-Haltestellen, um Kundschaft anzulocken. Doch nur allzu oft wurden ihm die paar Bolivianos von anderen Straßenkindern wieder abgenommen. Deshalb schloss er sich einer Gang an, diese bot ein wenig Schutz. "Meine Mutter, die sich gegen den Stiefvater nicht durchsetzen konnte, habe ich nie vermisst. Meine beiden Geschwister aus ihrer ersten Ehe aber schon sehr", so Salazar. Nach einem harten Jahr auf der Straße war er mit seiner Kraft am Ende und zog in ein Heim. Drei Jahre hielt er es dort aus, doch letztlich konnte er sich an die strengen Regeln nicht gewöhnen – und landete mit 16 Jahren neuerlich im Dschungel von El Alto.

Eines Tages begegnete er hier dem "Maya Paya Kimsa"-Mitarbeiter Pedro Argani – die Wende. Der Teenager absolvierte zwei über das Zentrum vermittelte Computer-Hardware-Kurse, seither verdient er sein eigenes Geld. Unter anderem hat er auch die Geräte des Kinderschutzzentrums gewartet. In Ermangelung einer eigenen Wohnung lebt er jetzt wieder bei seiner Mutter und dem Stiefvater – "weil eines ist für mich klar: Ich möchte nie wieder auf der Straße sein."

Pedro Argani, 28, weiß, dass nicht alle Interventionen in eine Erfolgsstory münden. Es gebe immer wieder Rückfälle und Rückschläge. "Wir agieren in einem sehr schwierigen Umfeld. Manchmal ist es zum Verzweifeln, aber wir geben kein Kind auf."

Es ist bitterkalt hier im bolivianischen Hochland auf mehr als 4000 Meter Seehöhe. In Sandalen ohne Socken treibt Modesto Ala Renfijo seine 30 Alpakas und sechs Lamas auf die kargen Weiden. Nachts sinkt die Temperatur an 250 Tagen pro Jahr unter den Gefrierpunkt. Was die Landwirtschaft hergibt, reicht gerade zum Überleben.

Trotz dieser Widrigkeiten ist Renfijo mit seiner Familie wieder in sein Heimatdorf Pananoza zurückgekehrt. „Hier bewegt sich gerade sehr viel“, begründet der 30-Jährige den Schritt. Konkret: Die Gemeinde San Pedro de Totora, zu der das Dorf gehört, hat sich als eine von insgesamt elf Kommunen des Landes für ein eigenes indigenes Autonomiestatut ausgesprochen, das auch behördlich anerkannt ist.

„Damit können wir unser Schicksal selbst in die Hand nehmen, unsere Kultur, Traditionen und Sprache pflegen und auch das Geld dorthin leiten, wo es sinnvoll ist“, so Renfijo. Damit meint er: Den Übergang der staatlichen Verwaltung in die indigene und damit mehr Mittel für die Landwirtschaft, die für die meisten die einzige Einkommensader darstellt. Zudem ist der Natur in der Welt der Indigenen eine stark religiöse Komponente eigen. Die „Pachamama“ (Mutter Erde) gilt als Quell des Lebens.

Regierung will nicht“ Doch was mit der neuen Verfassung 2009 so hoffnungsvoll begann, die eine solche Autonomie im mehrheitlich indigenen Bolivien erst ermöglicht, ist nun ins Stocken geraten. „Die Regierung will den Prozess offenbar nicht“, sagt Paulino Guarachi von der Organisation CIPCA. Die NGO, die von der Dreikönigsaktion unterstützt wird, steht in diesen Anliegen hinter den Indigenen, darüber hinaus steigert sie mit Agrar-Projekten den Ertrag der Bauern. Der soeben wiedergewählte Präsident Evo Morales fürchte, so Guarachi, den Zugriff auf die Bodenschätze, vor allem Erdgas, zu verlieren. „Obwohl selbst ein Indigener (der erste an der Staatsspitze des Landes), versteht Evo Morales unsere Ansätze nicht. Aber das ist wie beim Feminismus: Nur weil jemand eine Frau ist, muss sie den Feminismus nicht verstehen“, analysiert Guarachi.

Der Prozess werde dennoch vorangetrieben, so CIPCA-Direktor Eduardo Azevedo, „die Indigenen haben ein Recht auf Selbstbestimmung und auf ihr Territorium“.

Geschichte Seit 1954 sammeln Sternsinger der Katholischen Jungschar für deren Hilfswerk Dreikönigsaktion Geld für derzeit 500 Projekte in Lateinamerika, Afrika und Asien. Alle Jahre nach Weihnachten ziehen sie von Wohnung zu Wohnung und von Haus zu Haus.

Bilanz Seit Beginn haben insgesamt mehr als vier Millionen Kinder und Jugendliche 350 Millionen Euro „ersungen“. Jährlich kann mit diesen Spenden einer Million Menschen geholfen werden.

Spenden PSK, IBAN: AT23 6000 0000 9300 0330

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