"Sieg der Angst" spaltet die Türkei

Triumph der konservativ-islamischen Partei stärkt Präsident Erdogan, lässt Gegner aber noch mehr bangen.

Beim Blick in die türkische Presse hätte man am Montag meinen können, es habe am Sonntag zwei Wahlen gegeben – nicht nur eine. "Prächtiger Sieg", titelte das Blatt Yeni Safak, das Präsident Recep Tayyip Erdogan und der Regierungspartei AKP sehr nahe steht. "Die Türkei hat gewonnen – Revolution an der Urne", jubelte die ebenfalls regierungstreue Sabah. Dagegen war beim Oppositionsblatt Cumhuriyet von einem "Sieg der Angst" die Rede. "Der Chaos-Plan hat funktioniert", kommentierte die Erdogan-kritische Taraf.

Die Hälfte der Wähler

Die gegensätzlichen Bewertungen verdeutlichten die tiefe Spaltung der Türkei zwischen AKP-Anhängern und -Gegnern. Die Erdogan-Partei konnte am Sonntag mit 49,5 Prozent fast die Hälfte aller Wähler für sich gewinnen – während die andere Hälfte des Landes ab sofort in Furcht vor noch größerem Druck der Regierung auf Andersdenkende lebt.

Möglicherweise ist diese Angst nicht unbegründet. Der Journalist Cem Kücük von der AKP-treuen Zeitung Star etwa rief die Regierung am Montag dazu auf, weitere Erdogan-kritische Medien zu beschlagnahmen. Kücük nannte Zeitungen und TV-Sender aus der Bewegung von Fethullah Gülen, einem islamischen Prediger, der Erdogan lange unterstützte, sich aber zu einem Gegner des Präsidenten entwickelte.

Schon vor der Wahl hatten die Behörden einige Gülen-Medien mit Polizeiunterstützung mehr oder weniger enteignet und Freunden der AKP übergeben. Kücük findet, das müsse jetzt weitergehen. An der Istanbuler Börse stürzten die Kurse regierungsferner Medienunternehmen am Montag ab.

"Sieg der Angst" spaltet die Türkei
Für Erdogan-Gegner, die in den vergangenen Jahren unter anderem bei den Gezi-Protesten gegen die autokratischen Tendenzen der AKP-Regierung auf die Straße gingen, war der Wahltag ein schwarzer Tag. So wie im Nahen Osten die Freiheitsbewegungen des Arabischen Frühlings besiegt worden seien, habe der Erfolg der AKP vom Sonntag die endgültige Niederlage der Gezi-Bewegung besiegelt, schrieb der Politologe Fethi Acikel auf Twitter.

Diese Niederlage wurde möglich, weil die Nationalistenpartei MHP und die Kurdenpartei HDP viele Anhänger verprellten. Die MHP verweigerte sich allen Lösungen für die politische Krise, die nach der letzten Wahl im Juni entstanden war – am Sonntag verloren die Nationalisten zwei Millionen Wähler an die AKP. Die kurdische HDP wurde dafür abgestraft, dass die Kurdenrebellen der PKK im Sommer mit neuen Anschlägen begannen. Auch das verstärkte die Attraktivität der AKP bei vielen Wählern als Garant der Stabilität.

Projekt Verfassung

Erdogan und Ministerpräsident und AKP-Chef Ahmet Davutoglu werden nun bald das nächste Projekt angehen. Durch Verfassungsreformen will Erdogan aus der parlamentarischen Demokratie ein Präsidialsystem machen – was ihm zusätzliche Macht einbringen würde.

Mit 315 Abgeordneten kann die AKP trotz zurückgewonnener Stärke entsprechende Verfassungsänderungen nicht alleine verabschieden. Um ein Referendum über den Plan anzusetzen braucht sie mindestens 330 Stimmen. Davutoglu rief die anderen Parteien im Parlament bereits zur Kooperation bei der Ausarbeitung einer neuen Verfassung auf.

Möglicherweise werden die Türken schon bald erneut zu den Urnen gerufen: Schon jetzt sei absehbar, dass es eine Volksabstimmung über das Präsidialsystem geben werde, meint der Nahost-Experte Howard Eisenstatt von der Universität St. Lawrence in New York. Die einzige Frage sei, wie Erdogan dieses Thema angehe.

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