USA haben „eine echte soziale Krise“

US-Präsident Obama bei der Rede zur Lage der Nation 2013. Heuer will er sich die Verringerung der Einkommensunterschiede vornehmen
Obama will in seiner „Rede zur Lage der Nation“ die Armut thematisieren. Die Fakten dazu.

Die Rede zur Lage der Nation, die US-Präsident Barack Obama in der Nacht zum Mittwoch hält, ist nicht nur eine Gelegenheit, die politische Wunschliste zu formulieren. Sie ist auch eine Chance, um das Terrain für den Kongresswahlkampf im November abzustecken. Denn nach dem vergangenen Jahr, in dem das Patt zwischen Republikanern und Demokraten zum Stillstand führte, muss Obama Handlungsfähigkeit zeigen. Die Umfragen prophezeien ein Debakel für die Demokraten im Senat, der Präsident könnte endgültig zur „lahmen Ente“ werden. Deshalb die Ankündigung aus dem Weißen Haus, notfalls auch am Kongress vorbei zu handeln.

Denn 2014 muss Obama wirtschaftlich etwas weiterbringen – vor allem die Kluft zwischen Arm und Reich verringern. Denn der Amerikanische Traum ist für viele längst zur Illusion geworden. Das zeigt eine neue Studie zweier US-Soziologen – Prof. Thomas Hirschl von der Elite-Universität Cornell und Prof. Mark Rank von der Washington Universität in St. Louis. Sie haben 30 Jahre lang über Armut und Einkommensungleichheit in den USA geforscht und berichten dem KURIER von ihrem neuen Buch „Chasing the American Dream“ („Auf der Suche nach dem Amerikanischen Traum“), das im April herauskommt.

KURIER: Vor 50 Jahren erklärte US-Präsident Johnson der Armut in den USA den Krieg. Was hat sich seitdem geändert?

Mark Rank: Bis zu den frühen 1970er-Jahren ist die Armutsrate um die Hälfte reduziert worden. Von da an blieb alles gleich – 11 bis 15 Prozent der Bevölkerung sind arm. Die US-Wirtschaft schafft mehr Jobs mit niedrigen Löhnen und ohne Sozialleistungen. Es ist schwieriger, den Lebensunterhalt mit solchen Jobs zu bestreiten. Ein anderes Problem war, dass Johnson zwar der Armut den Krieg erklärte, der Krieg in Vietnam aber viele Ressourcen verbraucht hatte.

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Thomas Hirschl:Ein interessanter Punkt dieses „Krieges gegen die Armut“ ist die Geschichte von Martin Luther King. Kurz bevor er ermordet wurde, ging er nach Marks, einer kleinen Stadt in Mississippi. Dort besuchte er eine Schule, die nur ein Zimmer hatte mit acht Schülern und einem Lehrer. King kam zur Essenszeit, aber keiner in der Schule hatte etwas zum Essen. Der Lehrer hatte nur einen Apfel. Den teilte er in zehn Stücke und gab jedem Kind eines. Das war eine der Erfahrungen, die King inspirierten, seine Armutsbewegung zu gründen.Heute gibt die Regierung Milliarden für die Armen aus, doch das Land ist in vieler Hinsicht schlimmer dran als damals. In jenen Jahren gab es in Mississippi Armut wegen der technologischen Veränderungen in der Landwirtschaft. Heute sehen wir enorme Kürzungen bei den Industriejobs, und das Beispiel dafür ist Detroit. Das Geld, das man für den Krieg gegen die Armut vorgesehen hatte, ist immer noch da, es reicht aber nicht. Wir haben noch 46 Millionen Arme.

Im Buch untersuchen Sie die „wirtschaftliche Unsicherheit“. Was heißt das?

Rank: Wir sehen uns an, ob man unter 150 Prozent der Armutsgrenze rutscht, ob man sich von Regierungsprogrammen für sozial Schwache helfen lässt, oder ob jemand im Haushalt den Job verliert. Wenn eines dieser drei Ereignisse eintritt, nennen wir es „wirtschaftliche Unsicherheit.“ Was wir dadurch herausgefunden haben, ist, dass 79 Prozent der Amerikaner im Alter von 25 bis 60 Jahren in ihrem Leben eines dieser drei Ereignisse ein Jahr lang erleben. Das heißt, fast vier von fünf Amerikanern werden selbst eine starke wirtschaftliche Unsicherheit spüren.

Gibt es den „Amerikanischen Traum“ noch?

Hirschl: Der Titel unseres Buches lautet „Auf der Suche nach dem Amerikanischen Traum“, das heißt, wir haben ihn noch nicht erreicht.

Warum spricht man heute in den USA so oft über Armut und Einkommensungleichheit?

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Rank:Wenn man in einer Gesellschaft immer mehr Einkommensungleichheit hat, dreht sich der demokratische Prozess. Wenn jene, die erhebliche Ressourcen haben, diese im politischen Prozess einsetzen, ist das nicht gut für eine Demokratie. Je größer die Ungleichheit in der Gesellschaft, desto ungesünder ist sie.

Hirschl: Die Amerikaner denken gern positiv über die Zukunft, und jetzt fühlen sie keinen Optimismus für ihre Kinder. Das ist eine echte soziale Krise.

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