USA: Russland lieferte tödliche Rakete

Am Absturzort herrscht weiterhin Chaos.
Außenminister Kerry beschuldigt Moskau der Mittäterschaft. EU bereit, weitere Sanktionen gegen Russland zu verhängen.

Dass Flug MH 17 abgeschossen wurde, stand kurz nach dem Absturz in der Ostukraine praktisch fest. Dass die pro-russischen Separatisten die tödliche Flugabwehrrakete abgefeuert hatten, galt in Kiew und Washington ebenfalls schnell als unbestritten. Doch: Woher hatten die Rebellen das hochkomplizierte, nur von Profis zu bedienende Waffensystem?
US-Außenminister Kerry lieferte am Sonntag eine Antwort auf diese Frage: "Es ist ziemlich klar, dass dieses System von Russland in die Hände der Separatisten gelangte", sagte er gegenüber dem Nachrichtensender CNN.

"Das ist der Augenblick der Wahrheit für Putin."

Ähnliches berichtete im Vorfeld auch die Washington Post: Unter Berufung auf einen anonymen US-Regierungsmitarbeiter schrieb sie, dass Russland das Buk-Abwehrsystem, mit dem MH 17 laut Militärexperten abgeschossen wurde, an die Separatisten geliefert habe.

Auch die Ukraine verfügt nach Angaben ihres Präsidenten Petro Poroschenko über Beweise für einen Abschuss des malaysischen Passagierflugzeugs durch prorussische Separatisten. "Wir haben Satellitenbilder des Abschussortes sowie Fotos und Videos eines Raketenabwehrsystems, was von Waffentransporten aus Russland zeugt", sagte Poroschenko am Sonntag in Kiew. Er sprach von "unwiderlegbaren" Indizien.

EU für neue Sanktionen

Kerry hat die Europäer zudem in mehreren TV-Talkshows aufgerufen, dem Beispiel Washingtons zu folgen und ihre Sanktionen zu verschärfen. Es wäre enorm hilfreich, wenn einige europäische Länder, die bisher "ein wenig abgeneigt" seien, sich den USA anschlössen, sagte Kerry am Sonntag dem Sender CNN. "Das ist der Augenblick der Wahrheit für Putin."

Zuvor haben die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel, der französische Präsident Francois Hollande und der britische Premierminister David Cameron Russland erneut mit einer Verschärfung der EU-Sanktionen gedroht. Der russische Präsident Wladimir Putin müsse umgehend Druck auf die prorussischen Separatisten in der Ostukraine ausüben.

Den Ermittlern müsse ein ungehinderter Zugang zur Absturzstelle von Flug MH 17 gewährleistet werden, betonten der Elyseepalast und die britische Regierung nach Telefonaten am Sonntag. Sollte Russland nicht "unverzüglich die nötigen Maßnahmen ergreifen", werde dies beim EU-Außenministerrat am Dienstag Konsequenzen haben, hieß es in Paris weiter.

Man habe zwei Fragen in den Mittelpunkt gestellt, so ein Sprecher in Großbritannien: Den Zugang zur Absturzstelle und die Haltung der EU zu Russland in Anbetracht der Tatsache, dass alles darauf hindeute, dass die Rakete von prorussischen Separatisten abgeschossen wurde. "Sie waren sich alle einig, dass die EU ihre Haltung zu Russland überdenken muss und dass die Außenminister bereit sein sollen, weitere Sanktionen gegen Russland zu verhängen, wenn sie sich am Dienstag treffen."

Merkel telefonierte mit Poroschenko

Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko hat Merkel außerdem in einem Telefonat über die Ermittlungen informiert. Dabei warf er den prorussischen Separatisten die Plünderung der Absturzstelle in der Ostukraine vor.

"Der Diebstahl von Kreditkarten und anderer persönlicher Gegenstände - das, was die Terroristen mit den Körpern der Opfer machen - ist außerhalb des Rahmens der menschlichen Moral", sagte Poroschenko einer Mitteilung zufolge bei dem Gespräch.

Separatisten: Blackbox gefunden?

Unterdessen haben die prorussischen Aufständischen nach eigenen Angaben am Absturzort der malaysischen Passagiermaschine "Flugzeugteile" gefunden, die "Black Boxes ähneln". Aus Mangel an Spezialisten könnten sie die Teile nicht selbst untersuchen, sagte Rebellenführer Alexander Borodaj am Sonntag in Donezk. Das Material könne "internationalen" Ermittlern übergeben werden.

Am Absturzort der malaysischen Passagiermaschine im Osten der Ukraine sind den Rettungskräften zufolge bisher 196 der 298 Opfer geborgen worden. Die Sucharbeiten würden von bewaffneten prorussischen Separatisten überwacht und erheblich behindert. Der Bereich der Bergungsarbeiten sei von 25 auf 34 Quadratkilometer ausgeweitet worden.

Die sterblichen Überreste zahlreicher Opfer wurden zunächst in die ostukrainische Stadt Tores gebracht. Drei Kühlwaggons stünden inzwischen auf dem örtlichen Bahnhof, sagte Michael Bociurkiw von der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) am Sonntagnachmittag. Die Separatisten hätten von 167 Opfern in den Waggons gesprochen. Diese Zahl habe aber nicht geprüft werden können.

Zu sehen gewesen seien Leichensäcke, die man aber nicht habe zählen können, sagte der stellvertretende Leiter des OSZE-Einsatzes, Alexander Hug.

Chaotische Zustände

Aber es gibt weiterhin große Probleme: Wie internationale Beobachter berichten, herrschen chaotische Zustände an der Absturzstellte. Prorussische Rebellen vergreifen sich an den Hinterlassenschaften der Passagiere und einige von ihnen betrinken sich nach Informationen der Zeit Online mit Alkohol, den sie aus dem Wrack gestohlen haben. Der niederländische Regierungschef Mark Rutte zeigt sich "schockiert" über Bilder von "schamlosen" Separatisten, die Habseligkeiten der Opfer in Händen hielten.

Zutiefst schockiert zeigte sich auch Außenminister Frans Timmermans über Bilder und Berichte von der Bergung der Opfer. "Der Umgang mit den Toten ist widerlich", sagte der Minister. Er war in der Nacht auf Sonntag aus Kiew zurückgekehrt. Priorität habe nun die Rückführung der 193 niederländischen Opfer. "Die Familien wollen ihre Angehörigen begraben."

Bei der Absturzstelle halten sich zu viele Menschen auf, so der Schweizer Botschafters bei der OSZE, Thomas Greminger. Angesichts der schwer bewaffneten Separatisten vor Ort hat Greminger Sicherheitsbedenken. Es hielten sich Rebellen, Journalisten und bald auch internationale Delegationen sowie Angehörige bei der Absturzstelle auf. "Immerhin wurde am Samstagnachmittag eine Sicherheitsabsperrung eingerichtet." Groisman sprach von bis zu 900 Aufständischen rund um die Absturzstelle nahe der Ortschaft Grabowo.

"Die Rebellen sind schwer bewaffnet - und das ist noch ziemlich diplomatisch ausgedrückt."

Unklar sei auch, ob die Separatisten die Gruppen unter Kontrolle hätten. "Unsere Beobachter kehren zu ihrer eigenen Sicherheit abends nach Donezk zurück".

Greminger bestätigte frühere OSZE-Angaben, wonach der Zugang zum Unfallort für die OSZE-Experten am Samstag zwar besser war als am Vortag, aber aus Sicht der Organisation immer noch nicht ausreichend. Zur Blackbox, welche die Rebellen nach eigenen Angaben besitzen sollen und der OSZE übergeben wollen, sagte Greminger: "Wir versuchen, an die Aufzeichnungen zu gelangen, aber bis jetzt haben wir sie noch nicht."

Die ukrainische Regierung hatte den prorussischen Rebellen am Samstag vorgeworfen, mit Hilfe Russlands Beweismaterial zerstören zu wollen. Beobachter der OSZE wurden von bewaffneten Rebellen daran gehindert, sich vor Ort frei zu bewegen. Ein umfassendes Bild von der Lage konnten sie sich nicht machen.

Bei dem Absturz des Flugzeuges kamen alle 298 Insassen ums Leben. Die USA gehen davon aus, dass die Boeing 777 durch eine vom Rebellengebiet in der Ukraine abgefeuerte Boden-Luft-Rakete abgeschossen wurde. Die US-Botschafterin bei den Vereinten Nationen erklärte, eine Verwicklung Russlands in den Zwischenfall könne nicht ausgeschlossen werden. Russlands Präsident Wladimir Putin hat davor gewarnt, voreilige Schlüsse zu ziehen.

Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen verhandelt derzeit über eine Resolution zum Flugzeugabsturz in der Ostukraine. Westlichen Diplomaten zufolge hat Australien einen Entwurf vorgelegt, der von allen Beteiligten, insbesondere den prorussischen Rebellen, eine uneingeschränkte Zusammenarbeit mit den internationalen Behörden fordert. Jede Manipulation an der Absturzstelle soll verboten werden.

Eine rasche Abstimmung über die Resolution im Sicherheitsrat galt als unwahrscheinlich. Zwar machen die Australier Druck, am Sonntag war der Entwurf aber noch nicht abstimmungsreif. Zudem gilt die Regel, dass dann bis zur Abstimmung 24 Stunden vergehen müssen. Die Russen haben dem Vernehmen nach noch am Sonntag einen Katalog mit Änderungsforderungen vorgelegt. Weil Moskau sein Veto einlegen kann, ist eine rasche Einigung auf ein starkes Votum unwahrscheinlich.

Auch russische Medien arbeiten sich nach wie vor an dem Flugzeugunglück über der Ukraine am Donnerstag ab. Bei linientreuen wie kritischen Medien ist weiterhin von einem Absturz die Rede, nicht von einem Abschuss. Staatliche oder staatsnahe TV-Sender, die in weiten Teilen Russlands nach wie vor das Meinungsmonopol haben, lasten dennoch der Regierung in Kiew die Schuld an – unabhängige Kolumnisten, die vor allem in den Printmedien zu Wort kommen, eher den pro-russischen Separatisten. Ausführlich zitieren die einen wie die anderen aus der Fachpresse und aus offiziellen Erklärungen von Kreml und Regierung.
Vize-Verteidigungsminister Anatoli Antonow hatte Samstag bei Rossija 24 – dem Nachrichtenkanal des russischen Staatsfernsehens – die Führung in Kiew aufgefordert, alle Daten zur ukrainischen Luftabwehr im Konfliktgebiet offenzulegen. Nur so könne sich eine noch zu bildende internationale Kommission einen detaillierten Einblick verschaffen, wie und wo die Ukraine ihre Boden-Luft-Raketen verwendet.Nach Erkenntnissen Moskaus hat die ukrainische Armee seit Beginn der Kämpfe in der Ostukraine dort insgesamt 27 Buk-Raketensysteme in Stellung gebracht.
Igor Korotschenko, Chefredakteur des Fachblatts Nacionalnaja Oborona (Nationale Verteidigung), glaubt, dass Kiew hinter dem Absturz steht. Seine Begründung: Der ukrainischen Luftabwehr mangele es an Professionalität, bei der Überprüfung der Gefechtsbereitschaft von frisch in die Kampfzone verlegten Buk-Raketenwerfern habe es einen Fehlstart gegeben, das ausgebüxte Projektil habe die Boeing getroffen. Buk sei „das einzige System, das Ziele in derartigen Höhen zerstören kann“.

"Dummheiten"

Ukrainische Militärs hätten „ein Objekt in großer Höhe geortet“, es offenbar für ein russisches Spionageflugzeug gehalten und abgeschossen, vermutete im russischen Staatsfernsehen auch ein Vertreter der Separatisten, der bestreitet, dass die Rebellen Buk-Raketen hätten. Demgegenüber vermutet die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft, dass Moskau die pro-russischen Milizen beliefert habe. Der Pressesprecher von Kremlchef Wladimir Putin konterte: Das seien „Dummheiten“. Weitere Erklärungen dazu werde es deshalb nicht geben, sagte er dem britischen Guardian. Die USA würden in letzter Zeit eine „extrem unkonstruktive Politik“ betreiben, ihr Vorgehen sei unberechenbar.

Außenamtssprecher Alexander Lukaschewitsch zeigte sich „verwundert“ darüber, dass mehrere Länder noch vor Beginn der Ermittlungen über diverse Ursachen für den Absturz des malaysischen Passagierjets in der Ostukraine mutmaßen. Durch nichts belegte Versionen des Unglücks würden die Ermittler unter Druck setzen. Moskau ruft daher die beiden Konfliktseiten in der Ukraine auf, internationalen Experten einen ungehinderten Zugang zur Absturzstelle zu verschaffen.
Die alleinige Verantwortung, so der Politikwissenschaftler Igor Bunin vom Moskauer Zentrum für politische Technologien, liege bei den Separatisten. Wie sich die Lage weiterentwickelt, hänge jedoch von Moskau ab.

Am 4. August sind wir wieder da, hatten sie auf den Zettel geschrieben, bis dahin schöne Ferien! Es ist nur wenige Tage her, dass Cor Schilder und Neeltje Tol diese Notiz an der Tür ihrer Blumenhandlung anbrachten, und doch scheint es unendlich weit weg. Donnerstagnachmittag begann in Volendam, 20 Kilometer von Amsterdam, eine neue Zeitrechnung; man wird hier noch lang Ereignisse in davor und danach einteilen.

Davor, das war, als Cor und Neeltje, beide Anfang dreißig und seit über zehn Jahren ein Paar, sich auf ihren Sommerurlaub auf Bali freuten. Kurz vor dem Start von Flug MH 17 hatte Cor noch ein Foto der Boeing auf Facebook gepostet, dazu die mittlerweile weltweit bekannten, scherzhaft gemeinten Worte: "Falls es verschwindet: So sieht es aus."

Im Danach trauert der Ort, legen Verwandte, Freunde und Bekannte vor dem Geschäft Blumen nieder, nehmen Abschied. Ein Bild zeigt Neeltje und Cor, wie man sie in Erinnerung hat: Lachend, ein glückliches Paar, das noch viel vor hatte im Leben.

192 Holländer an Bord

Szenen wie in Volendam spielen sich derzeit im ganzen Land ab: 192 Niederländer waren an Bord, als Malaysia Airlines Flug MH 17 Donnerstagnachmittag über der Ostukraine explodierte. In die Trauer mischt sich auch Wut. Ein Wort reichte der Zeitung De Telegraaf am Samstag für die Titelseite: "Mörder", dazu Bilder pro-russischer Separatisten, die für den Abschuss verantwortlich gemacht werden. "Dieser Anschlag darf nicht ohne Folgen bleiben", sagt Regierungschef Mark Rutte, der seinen Urlaub sofort abgebrochen hat. Eine unabhängig internationale Ermittlung soll der trauernden Nation Antworten liefern.

"Jeder kennt jemanden"

Ein ganzes Land steht unter Schock, "es ist, als ob jeder jemanden gekannt hat, der in diesem Flugzeug war", sagt Robert. "Ich habe zwei Freunde aus meinem Sportverein verloren, eine Mitschülerin meiner Freundin und auch ihre Volksschullehrerin war an Bord." Gut möglich, sagt Robert, dass er in den nächsten Tagen erfahren muss, noch mehr der Toten über ein, zwei, drei Ecken gekannt zu haben.

Auf dem Hotel, in dem er arbeitet, weht die Flagge auf Halbmast. Robert würde sich wünschen, dass man auch im touristischen Zentrum von Amsterdam ein Zeichen setzt: "Die Leute sitzen im Park, picknicken und feiern, als ob überhaupt nichts passiert wäre."

Trauer vor Terminal 3

Spürbar ist die Trauer vor allem am Flughafen Schiphol, von wo aus MH 17 am Donnerstag um 12:15 abgehoben hatte. Zahlreiche Angehörige kamen in den ersten Tagen nach dem Unglück hierher. Viele sind in die Ukraine geflogen, andere wurden in Flughafen-Hotels untergebracht, wo sie – abgeschirmt von der Polizei – von Psychologen und Ärzten rund um die Uhr betreut werden.

Blumen und Kerzen

Vor der Abflughalle 3, in der Malaysia Airlines ihre Flüge abfertigt, wurde eine provisorische Trauerzone eingerichtet: Die Menschen bringen Blumen und Fotos von Passagieren; "Ruhe in Frieden" steht auf einer Karte, "Das hätte nie passieren dürfen" auf einer anderen. Kerzen brennen hier. Im Gedenken an die 80 Kinder, die an Bord waren, haben Menschen Teddybären und kleine Holzschuhe zwischen die Blumen gelegt. "Das hätten auch wir sein können", sagt Antje, die mit ihrer Familie in den Urlaub fliegt und sich davor, wie viele Passagiere heute, in das Kondolenzbuch vor Terminal 3 einträgt.

Im VIP-Center der Abflughalle verkündet ein Sprecher der Fluglinie vor der internationalen Presse die neuesten Erkenntnisse über den Unglücksflug und die Passagierliste. Er listet noch einmal auf, wie viele Menschen welcher Nationalität an Bord waren.

Vor der Tür wurden und werden aus den Zahlen hunderte Einzelschicksale: Von der jungen Mutter mit drei Kindern aus der Kleinstadt Naarden bei Amsterdam wird erzählt; vom segelbegeisterten Großvater mit den drei Enkeln, deren Eltern nicht mit zurück nach Australien flogen, weil sie noch ein paar Tage länger in Amsterdam bleiben wollten; von der 14-jährigen Sherryl, die sich immer samstags als Obst- und Gemüseverkäuferin in einem Supermarkt das Geld für ihren Flug verdiente.

Samstagnachmittag erscheint auf der Anzeigetafel in Terminal 3 die nüchterne Bestätigung: Ein neuer Flug MH 17 hat Amsterdam Richtung Kuala Lumpur verlassen.

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