Libanon: Die verlorene Generation

Libanon: Die verlorene Generation
Zwei Millionen syrische Flüchtlinge im Land – die Hälfte davon Kinder. Die meisten müssen arbeiten.

Zwei uralte Blechtöpfe und ein paar Plastikteller, das ist alles, was Kagit al-Eidan noch besitzt. Kleider zum Wechseln haben die 40-jährige Syrerin und ihre sechs Kinder nicht. Die dünnen Matratzen, auf denen sie schlafen, sind geborgt. Und für ihr Zelt, auf eiskaltem Lehmboden, irgendwo auf einem Acker in der libanesischen Bekaa-Ebene, hat sie umgerechnet hundert Dollar Miete pro Monat zu bezahlen – die sie nicht aufbringen kann. Ihre Schulden wachsen von Tag zu Tag.

Libanon: Die verlorene Generation
Lebanon
Vor einem halben Jahr war Kagit noch Bäuerin in ihrem syrischen Heimatdorf. Alles andere als reich. Aber überleben konnte die Familie dank ihrer Schafe auch im Krieg.

Bis die Flugzeuge kamen.

Ein paar Minuten später war alles vernichtet: Der Ehemann von den Bomben getötet, das Haus in Trümmern, die Tiere zerfetzt.

Mit einem Halstuch wischt sich Kagit die Tränen aus den Augen. "Ich wollte nicht, dass auch noch eines meiner Kinder stirbt. Deshalb sind wir sofort geflohen." In Sicherheit, das sind sie nun, die Witwe und ihre sechs Kinder im Alter zwischen vier und 14 Jahren, doch angekommen sind sie im tiefsten Elend.

Keine Schuhe

Libanon: Die verlorene Generation
Seit der Libanon im Jänner die Grenze zu Syrien nahezu dichtmachte, dürfen Flüchtlinge wie Kagit, die heuer hier strandeten, nicht mehr von der UNO als Flüchtlinge registriert werden. Das bedeutet für Hunderttausende Menschen: Keine Unterstützung, keine Nothilfe, keine Decken, keine Winterschuhe, kein Brennmaterial und für die Kinder keinen Schulplatz. Aber an Schule könnten Kagits Kinder ohnehin nicht denken. Die Größeren, in schmutzstarrendem Gewand und von Staub verkrusteten Haaren, durchstreifen die matschigen Wege zwischen den Zelten ihres provisorischen Flüchtlingslagers. Immer auf der Suche nach Arbeit. Schaufeln hier, Äpfel klauben beim Bauern nebenan – in der Hoffnung, einen oder zwei Dollar am Tag zu verdienen.

Zu wenig Schulplätze

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Libanon
In einer gewaltigen Kraftanstrengung hat der kleine Libanon (etwas größer als Kärnten) mit seinen vier Millionen Einwohnern knapp zwei Millionen syrische Flüchtlinge aufgenommen. Fast die Hälfte dieser Flüchtlinge sind Kinder unter 18 Jahren. 150.000 von ihnen haben einen Platz in libanesischen Schulen ergattert – dafür mussten in den Schulen Nachmittagsschichten eingeführt, Tausende Lehrer gefunden und viele Millionen Dollar aufgebracht werden. Mehr aber schafft das kleine Nachbarland Syriens nicht.

Mindestens 350.000 syrische Flüchtlingskinder bleiben damit von jedem Unterricht ausgeschlossen – und von Chancen für ihre Zukunft. "Wir laufen große Gefahr, eine verlorene Generation heranwachsen zu lassen", warnt Michael Landau, Präsident der Caritas Österreich. Einen Schwerpunkt ihrer Arbeit legt die Caritas, in Zusammenarbeit mit der Caritas Libanon, deshalb darin, Kinder wieder in eine Schule zu bekommen.

Wie etwa in die Schule St.Vinzenz der Barmherzigen Schwestern in der libanesischen Bergstadt Broumana. Christliche und muslimische Kinder werden hier Seite an Seite unterrichtet, libanesische und syrische Flüchtlingskinder gemeinsam. Was für Hunderttausende Kinder unvorstellbarer Luxus ist, wird in der Schule – auch dank der Hilfe aus Österreich – geboten: Unterricht, eine warme Mahlzeit pro Tag, Jause, Spielstunden, spezielle Förderungen. Eines freut Schulleiterin, Schwester Zahia, ganz besonders. "Der beste Schüler unseres Hauses ist Gabriel, ein achtjähriger Bub aus Syrien." Weitere Projekte der Caritas sehen auch die Betreuung von Kindergarten- und Vorschulkindern vor.

Die zwei Buben von Sleiman und Wisal, einem jungen Ehepaar aus der syrischen Stadt Homs, klammern sich indessen ängstlich an ihre Mama. Seit zwei Jahren ist die kleine Familie im Libanon von Garage zu Kellerloch, von Abstellraum zu Zelt gezogen. Derzeit leben sie in einem Vorort der Hauptstadt Beirut. Dort, wo die libanesische Polizei den Flüchtlingen nicht so streng auf die Finger schaut und sie hin und wieder arbeiten lässt – obwohl das für Flüchtlinge im Libanon verboten ist.

An diesem eiskalten Dezemberabend scharen sich die Eltern und ihre zwei Kinder um den kleinen Ofen ihres einzigen Zimmers. Das Fenster ist kaputt, die Plastikplane hält den Wind kaum draußen. Möbel gibt es keine, nur ein paar Matratzen am Boden, der Verputz an der Decke bröckelt, in den Ecken wächst der Schimmel. 200 Dollar pro Monat haben sie dafür an ihren Vermieter zu bezahlen.

"Bis der Krieg aufhört"

Den ganzen Tag sind Khaled, viereinhalb, und sein kleiner Bruder Rais in dem Zimmer. Sitzen still und eingeschüchtert. "Sie können ja mit ihren Spielsachen spielen", sagt Wisal und deutet auf eine zerfranste Plüschfigur und ein paar Plastikautos.

Kindergartenplatz oder Betreuung für die Kleinen? Ihre Mutter hat resigniert. Nur irgendwie durchkommen, irgendwie überleben. Einen Tag nach dem anderen – "bis der Krieg in Syrien aufhört. Dann gehen wir sofort zurück", sagt Sleiman. Wann er damit rechnet? Der junge Installateur, der auf dem Schwarzmarkt hin und wieder für einen Tag Arbeit jeweils 17 Dollar erhält, zuckt nur mit den Schultern.

Heute haben sie von der Caritas-Nothilfe vier Decken bekommen. Wie sie die vergangenen Winternächte überhaupt schlafen konnten, in diesem eisig-feuchten Zimmer? Sleiman lächelt hilflos: Geld für Decken hat er nicht. Jeder Dollar, den er verdient, fließt in die Miete. Jeder Dollar – auch wenn die Familie dafür wieder einmal auf das Essen verzichten muss.

Spenden erbeten an:

Caritas. Erste Bank: IBAN: AT 23201110000123 4560, BIC: GIBAATWWXXX, Kennwort: Kinder auf der Flucht.

Online-Spenden: www.caritas.at/kinderkampagne/

Regungslos sitzt Zara Bardojan da, als er zu erzählen beginnt. Keine Geste lässt sein Entsetzen über das Erlebte erahnen, nur die Augen verraten tiefe Traurigkeit. Sofort als sie in seine Heimatstadt Rakka kamen, erinnert sich Bardojan, hätten die Terrormilizen des "Islamischen Staates" (IS) begonnen, Christen umzubringen. "Sie sind von Haus zu Haus gegangen, haben Autos und Geld konfisziert, die Leute aus ihren Häusern geworfen. Wer sich weigerte, wurde erschossen." Bardojaon, ein wohlhabender Goldhändler zahlte, für das Überleben seiner Familie – 6000 Dollar.

Aber Überleben, das hieß sich bedingungslos dem IS zu unterwerfen. Frauen, auch christliche, durften das Haus nicht mehr ohne Vollschleier und ohne männliche Begleitung das Haus verlassen. Öffentliche Hinrichtungen und jeden Moment Todesangst.

"Mein 19-jähriger Sohn wurde zwei Mal vom IS verhaftet. Sie fragten ihn: Bist du Muslim? Und er log, um zu überleben. Dann fragten sie, ob er das muslimische Glaubensbekenntnis sagen könne – er konnte es...das hat ihn gerettet." Doch nach einem Monate Terrorherrschaft verkündeten die neuen Herren der Stadt: "Alle Christen müssen getötet werden." Da blieb den Bardojans nur die Flucht. Sie durften nur mitnehmen, was sie am Leib trugen.

Seit fünf Monaten sind sie nun in einer Flüchtlingsunterkunft im Libanon, betreut von der Caritas. Tausende christliche Familien sind hier eingetroffen. Fast alle mit den selben Erfahrungen: Verwandte wurden getötet, weil sie Christen waren. Männer wurden entführt und nur gegen die Zahlung Tausender Dollar freigelassen. In den Gebieten Syriens, wo radikale Islamisten alles kontrollieren, gibt es heute fast keine Christen mehr. Dass es für sie eine Heimkehr geben wird, glaubt von den vertriebenen Christen keiner. "Wir gehen nie mehr zurück", sagte Mirna, deren Mann von Islamisten fast zu Todes gefoltert worden war. Sie und ihr Mann hoffen auf eine Zukunft in Australien.

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