Die Romantik des Dschihad
Eines Tages waren sie plötzlich verschwunden: Fünf Schüler von Lamya Kaddor zogen in den "heiligen Krieg" – ganz normale Typen, die die 37-Jährige einst an der Hauptschule im deutschen Dinslaken unterrichtet hatte. Vier der Burschen kehrten bald desillusioniert zurück, einer kämpft noch in Syrien – wie viele Deutsche. Derzeit versucht der IS, vor allem Frauen anzulocken.
Kaddor, selbst Mutter zweier Kinder und studierte Islamwissenschaftlerin, hat über diese Erfahrungen ein Buch geschrieben. Das Echo war geteilt: Für ihr Engagement wird die Deutsche, deren Vorfahren aus dem syrisch-türkischen Grenzgebiet stammen, gefeiert und angefeindet zugleich.
KURIER: Wie haben Sie erfahren, dass fünf Ihrer ehemaligen Schüler nach Syrien gezogen sind? Und wie haben Sie reagiert?
Vier davon kamen zurück, ein fünfter kämpft noch dort. Was haben die Heimkehrer Ihnen erzählt?
Ihnen war das sehr peinlich. Sie schienen sehr desillusioniert zu sein, erklärten mir, damals hätten sie das Gefühl gehabt, sie täten das Richtige.
Wieso gehen die Jugendlichen in den "heiligen Krieg"?
Das hat unterschiedliche Gründe. Zum Beispiel weil einige in ihren eigenen Augen keine Deutschen sind. Sie fühlen sich ausgegrenzt, haben das Gefühl von emotionaler Leere und Ungerechtigkeit – und sie glauben nichts mehr zu verlieren zu haben, fühlen sich deshalb von einer neuen Gruppe angenommen. Es ist bei vielen eine Rebellion gegen die Ausgrenzung der Mehrheitsgesellschaft. Andere wiederum rebellieren etwa gegen das eigene Elternhaus.
Wie erklären Sie sich, dass der Dschihad auch vermehrt Frauen anzieht?
Das ist ein Stück weit der gleiche Antrieb. Das ist eine Form des Protests, der Rebellion in krassester Art und Weise – auch meist gegen die eigenen Eltern. Die Mädchen haben eine andere Perspektive auf das Thema Gerechtigkeit: Viele von ihnen werden traditionell, aber nicht besonders religiös, in die traditionelle Mädchenrolle hineinerzogen. Ihre Brüder werden bevorzugt. Ihr Gedanke ist: In Syrien gelten die selben strengen Regeln für Jungs und Mädchen – dort ist es gerechter als das Leben hier. Solange die Strenge für alle gilt, ist das für die Mädchen ok. Ein weiterer Grund kann sein, dass die Mädchen einen naiv-romantischen Blick auf den Dschihad haben: Die Frau eines Helden zu sein, die Gemeinschaft vergrößern durch Kinder – das hat in der Perspektive manch eines Mädchen etwas "Ehrenwertes".
Gibt es "klassische" Warnsignale?
Einen abrupten Denk- und Handlungswandel etwa. Ein ganz schneller Umbruch, wenn das eigene Kind beginnt, sich anders zu benehmen, in den Kategorien schwarz-weiß und gut-böse denkt. Stichwort: Abgrenzung. Wenn jemand indes beginnt, sich stark für Religion zu interessieren, muss das nicht automatisch ein Zeichen für Radikalisierung sein.
Kann man Rückkehrer resozialisieren? Oder ist die Angst der Behörden – Stichwort Staatsbürgerschaftsentzug – berechtigt?
Nein, die Angst ist nicht berechtigt. Wir kennen das ja von anderen Gruppen, Neonazi-Aussteigern etwa – eine Resozialisierung ist möglich, aber es ist natürlich nicht ganz so einfach, dieses Denken nicht mehr anzuwenden. Es braucht viel Therapie und viel Geduld. Meist kommen sie ja zurück, weil sie desillusioniert sind, weil es ihnen zu viel dort war – wenn sie ihre angemessene Strafe bekommen haben, ist eine Resozialisierung schon möglich. Man muss aber auch ein Auge darauf haben, dass die Rückkehrer in den Gefängnissen nicht weiter radikalisiert werden. Es muss jedenfalls im Einzelfall entschieden werden.
Von Ihnen stammt der Satz "Salafisten sind mitunter einfach nur die besseren Sozialarbeiter". Tut der Staat zu wenig?
Ja, der Staat tut definitiv zu wenig. Man streicht Stellen, bei Schulpsychologen, Sozialarbeitern, Beratungsstellen – immer weniger Fachpersonal kommt auf immer mehr Schüler. Das ist besorgniserregend. Denn man kann eindeutig eine Verrohung unserer Jugend feststellen, und das wird zum Problem für Deutschland: Wenn man sich immer noch nicht als Einwanderungsland begreift, wenn Menschen, die in dritter Generation hier leben, abschätzig als Fremde behandelt werden, ist es klar, dass die Gruppe, die an den Rand der Gesellschaft gedrängt wird, ausbrechen will. Man muss Platz schaffen für andere Lebenskonzepte – aber dieses Selbstverständnis haben weder viele der Deutschen noch viele jener mit Migrationshintergrund. Das ist ein Appell an beide Seiten, für ein neues deutsches "Wir".
Sehen Sie die Muslime selbst gefordert?
Sie werden für Ihr Engagement angefeindet – von der muslimischen Community ebenso wie von Islamgegnern. Gibt es Parallelen zwischen den Gruppen?
Ja. Bezeichnend sind die Extreme, teils nutzen sie auch dieselben Argumente. Es wird etwa immer derselbe Koranvers gebracht: "Tötet die Ungläubigen, wo immer ihr sie trefft." Das ist eine buchstäbliche Auslegung des Korans, dabei ist er ja ein Zeugnis seiner Zeit, den man im historischen Kontext lesen und verstehen muss. Das wird negiert. Für die einen bin ich deshalb zu wenig muslimisch, für die anderen zu viel muslimisch. Aber ich fühle mich da ganz wohl, es ist die Bestätigung dafür, dass ich genau richtig in der Mitte bin.
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