"Der Islam war einmal tolerant, fortschrittlich und weltoffener"
KURIER: Syrien ist ja historisch ein sehr vielschichtiges Gebilde. Syrien war in der Spätantike eine geistige Hochburg des Christentums, dann eines der großen kulturellen Zentren des Islam und auch ein Brennpunkt der Spaltung in Sunniten und Schiiten, dann ein wesentlicher Schauplatz der Kreuzzüge, im 20. Jahrhundert schließlich eine wichtige Keimzelle des arabischen Nationalismus wie des islamischen Fundamentalismus. Und seit 2011 ist Syrien Schauplatz eines äußerst blutigen Bürgerkriegs, bei dem sich politische und religiöse Motive überlagern. Wird Syrien da herausfinden?
Gerhard Schweizer: Die Fronten innerhalb dieses Bürgerkriegs sind äußerst kompliziert. Auf der einen Seite haben wir das Assad-Regime mit einer offiziell säkularen und nationalistischen Ideologie, auf der anderen Seite stehen verschiedene Rebellengruppen mit einer mehr oder weniger radikalen islamistischen Ideologie. Die Rebellengruppen sind in sich religiös und ideologisch aufgespalten. Am radikalsten ist die Terrororganisation des sogenannten "Islamischen Staates", des IS. Aber der IS kämpft nicht nur fanatisch gegen das säkulare, "ungläubige" Assad-Regime, sondern auch gegen viele der islamistischen Rebellengruppen, obwohl diese doch auch Gegner des Assad-Regimes sind. Die Islamisten der anderen Gruppen gelten als Rivalen und "Verräter" am wahren Glauben. Diese religiös-politische Rivalität schwächt die Front gegen Assad. Besonders verhängnisvoll ist, dass ausgerechnet der IS aus diesen Kämpfen gestärkt hervorgeht, weil er militärisch am besten gerüstet ist.
Der IS soll vernichtet werden, darin sind sich nicht nur die westlichen Mächte einig, sondern auch viele islamische Staaten. Ist das ehrlich?
Also Assad profitiert letztlich vom IS. Die Türkei indirekt auch. Wer unterstützt noch den IS? Die Saudis – ja oder nein? Die Golfstaaten?
Glaubt irgendwer im IS ernsthaft, dass ihr Staat ein weltweites "Kalifat" aufbauen kann?
Die islamische Welt ist religiös wie politisch aufgesplittert, der Westen dagegen ist wirtschaftlich wie militärisch stark. Um so mehr mag es verblüffen, dass der IS propagiert, er werde seine Art von Islam in der ganzen Welt ausbreiten und hierbei auch den Westen besiegen.
Liegt dies nicht an der religiösen Grundhaltung des IS?
Da sind wir jetzt tief in der syrischen Geschichte. In diesem Bürgerkrieg seit 2011 vermischen sich ja gerade machtpolitische und religiöse Motive. Assad ist ja bekanntlich Alawit. Die Alawiten bilden eine schiitische Sekte, die in Syrien etwa 11 Prozent der Bevölkerung ausmacht. Rund 70 Prozent der Syrer sind Sunniten, rund 10 Prozent sind Christen, rund 2 Prozent Schiiten, rund 3 Prozent sind Drusen. Im Verlauf des Bürgerkriegs zeigt sich zunehmend, dass die ursprünglich politischen Konflikte und Verteilungskämpfe entlang religiöser Grenzlinien verlaufen. Entsteht zunehmend ein Religionskrieg?
Kann es in naher Zukunft nicht wieder zu einem politisch-religiösen Ausgleich kommen?
Was im Augenblick zu beobachten ist, verheißt nichts Gutes. Gegenwärtig findet eine quasi religiöse "Säuberung" statt. Radikal-sunnitische Gegner von Assad verbreiten Parolen wie "Christen nach Beirut, Alawiten in den Sarg". Die Christen als mutmaßliche Sympathisanten ihres Schutzherrn Assad, sollten in den Libanon auswandern, wo ohnehin viele Christen leben, die Alawiten aber verdienten als "Ungläubige" ausnahmslos den Tod. Wenn die Alawiten also überleben wollen, müssen sie sich in ihrem verbliebenen Machtbereich möglichst extrem abkapseln. Auf diese Weise würde eine Art "Alawitistan" entstehen, daneben ein "Sunnitistan", daneben ein IS-Kalifat – alles sehr kleine Gebiete mit religiös extrem einheitlicher Bevölkerung. Dies erinnert an die Situation der europäischen Glaubenskriege, als Katholiken und Protestanten sich immer mehr voneinander absonderten. Aber das war noch vor wenigen Jahrzehnten in Syrien völlig anders. Ich kenne eine Reihe Syrer, die in Mischehen leben, also Sunniten und Schiiten und Alawiten miteinander verheiratet sind. Der säkulare Diktator Baschar al-Assad selbst lebt ja in einer Mischehe, er ist mit einer Sunnitin verheiratet. Aus der Sicht orthodoxer Sunniten ist eine solche Mischehe eine schwere Sünde. Wir können uns angesichts solcher Haltung an eine nicht allzu weit zurückliegende Zeit unserer christlichen Vergangenheit erinnern.
Seit wann spielt die Zugehörigkeit zu einer der verschiedenen Glaubensrichtungen in der islamischen Welt wieder eine Rolle?
Es ist in der Tat nicht nur ein Problem in Syrien, sondern in der gesamten islamischen Welt. Wesentlich zu dieser Veränderung haben radikal-islamische Bewegungen beigetragen, anfangs vor allem die El Kaida. Radikale Sunniten haben begonnen, schiitische Moscheen zu zerstören, um so religiös-politische Unruhen zu provozieren. Diese Radikalisierung hat im Nachbarstaat Irak ihren Anfang genommen, in einem Land, das ähnlich multi-religiös wie Syrien ist.
Das heißt, der Irak ist ähnlich schwierig zu befrieden wie Syrien?
Dies ist die Situation heute. Dabei war der islamische Raum noch vor etlichen Jahrhunderten viel fortschrittlicher als das christlich geprägte Europa. Das gilt gerade auch für die religiöse Toleranz. Im Mittelalter genossen Andersgläubige unter islamischer Oberhoheit eine wesentlich größere Toleranz als etwa Andersgläubige im christlichen Abendland. Auch die Wissenschaft war damals unter islamischer Herrschaft weltoffener als bei Christen.
Wie aber stellt sich die Situation heute dar? Haben Muslime nicht große Schwierigkeiten, sich nun mit unserer Kultur vertraut zu machen? Jetzt kommen Muslime in großer Zahl als Flüchtlinge zu uns nach Europa. Viele von ihnen sind möglicherweise strenggläubig. Fällt es ihnen nicht schwer, sich mit den Gepflogenheiten eines säkularen Staatswesens vertraut zu machen?
Es gibt diese Schwierigkeiten. Aber ein Teil der Syrer ist säkular, erst recht gilt das für einen beträchtlichen Prozentsatz der Türken. Sie wissen sehr wohl die Freiräume zu schätzen, die ein säkulares Staatswesen mit ihrer Form von Meinungsfreiheit und Toleranz bietet. Für nicht säkular orientierte Muslime wird es schwieriger. Hier ist die Fähigkeit zur Integration gefordert – dies aber nicht nur von Muslimen, sondern auch von den Europäern. Beide Seiten müssen das Ihre zu einem Miteinander aufbringen. Das ist allerdings eine Herausforderung mit noch vielen offenen Fragen. Ich möchte in diesem Zusammenhang aber betonen, dass man Integration nicht mit Assimilation verwechseln sollte. Assimilation bedeutet, dass der Fremde sich völlig der anderen Kultur anzupassen hat. Integration dagegen bedeutet, dass man dem Zuwanderer das Recht auf kulturelle Eigenständigkeit lässt – dies allerdings unter der Voraussetzung, dass der Zuwanderer die Grundwerte des säkularen Staates anerkennt.
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