Marine Le Pen auf der Überholspur
Franck Briffaut, Bürgermeister von Villers-Cotterets, 80 Kilometer nördlich von Paris, schwärmt für Wien, wo er regelmäßig verweilt, und für japanische Kultur – weil sich an diesem Wahlkampfabend ein japanisches Journalistenteam und der KURIER-Korrespondent unter die 40 Zuhörer gemischt haben.
Das Interesse für die Kleinstadt ist ungewöhnlich – noch dazu anlässlich einer Wahl für das Departement, eine eher wenig beachtete Ebene der verworrenen französischen Verwaltungspyramide. Aber Briffaut ist Rathauschef einer der elf Städte, die der "Front National" (FN) im März 2014 erobert hatte. Jetzt kandidiert Briffaut auch für den Vorsitz seines Departements Aisne.
Laut Umfragen winkt dem FN im ersten Durchgang dieser landesweiten Departement-Wahlen heute, Sonntag, ein neuerlicher Durchbruch mit 30 Prozent, nachdem er bereits bei den EU-Wahlen mit 25 Prozent zur stärksten Partei avancierte. Die FN-Vorsitzende Marine Le Pen sieht ihren für heute erwarteten Triumph als Sprungbrett für die Präsidentenwahlen 2017.
Allerdings dürfte der FN die Stichwahlen am nächsten Sonntag für den Vorsitz der Departements nur in wenigen Fällen gewinnen. Die größten Chancen hat der FN im Departement Aisne – eine jener Grauzonen abseits der größeren Städte, wo sich Ortsansässige und Zuzügler abgehängt und verachtet glauben. Wo der öffentliche Dienst weggespart wird, der Industrieschwund für Hoffnungslosigkeit sorgt und die Angst vor der unruhigen Jugend aus den Vororten der Metropolen umgeht. Dass im Jänner die Brüder Cherif und Said Kouachi, die die Redakteure von Charlie Hebdo ermordet hatten, ihr letztes Gefecht in der Gegend lieferten, hat dieser Sorge noch Auftrieb verliehen.
Ein Zuhörer ergänzt: "Ich hielt es in meinem Wohnviertel in Saint Denis (Pariser Vorort) nicht mehr aus." Der Mann pendelt aber täglich zurück in die Pariser Trabantenstädte. Dort arbeitet er für eine Firma, die Sozialbauten instand hält: "Es gibt Siedlungen, in die uns vermummte Drogendealer nicht hineinlassen." Sein Sitznachbar outet sich als Polizist, der am Flughafen Charles De Gaulles in Roissy arbeitet: "In den unterirdischen Anlagen des Flughafens hat muslimisches Bodenpersonal geheime Gebetsstätten errichtet. Einige wollen keine Anweisung von weiblichen Vorgesetzten entgegennehmen", behauptet der Beamte.
Generalverdacht
Stimmt das? Der Flughafen, nur 48 Kilometer von Villers-Cotterets entfernt, ist für minder qualifizierte Jobsucher einer der wenigen möglichen Arbeitgeber. "Fast alle meine Freunde arbeiten dort", erzählt ein bärtiger junger Mann im Café "La Française" im Stadt-Zentrum: "Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand einer Vorgesetzten nicht gehorcht. Das wäre doch gegen die Vorschriften. Wir Muslime stehen unter Generalverdacht."
Der FN-Politiker Briffaut beerbte einen SP-Bürgermeister. Dieser scheiterte, weil er von zwei Seiten in die Mangel geriet. In den von ihm ausgebauten Sozialsiedlungen am Stadtrand wurden Feuchtigkeitsschäden nicht behoben. Dazu kam die Enttäuschung über die Arbeitslosigkeit: "Er hat sich nicht um uns gekümmert, weil wir Araber sind", meint ein Mann aus einer Siedlung.
Für einen Eklat sorgte der FN-Bürgermeister, als er im Vorjahr eine Gedenkfeier für die Abschaffung der Sklaverei boykottierte. Begründung: "Frankreich muss mit der Kultur der Selbstvorwürfe aufhören." Diese in ganz Frankreich vorgeschriebene staatliche Zeremonie würdigt die Geschichte der in die Karibik verschleppten afrikanischen Sklaven. Deren Nachfahren bevölkern heute die immer noch französischen Antillen-Inseln, von wo aus ein Teil nach Frankreich als Arbeitskräfte in den 1960er-Jahren geholt wurde. In Villers hat dieser Festakt eine besondere Bedeutung, weil die Stadt den Schriftsteller Alexandre Dumas (Autor der "Drei Musketiere") zu ihrem kulturellen Wahrzeichen gemacht hat. Dumas, der hier 1802 zur Welt kam, war Sohn des ersten schwarzen Generals Frankreichs, der aus der Karibik stammte.
Angepöbelt
In den letzten Jahren hatten einige dutzend Familien von Karibik-Franzosen, die in Paris arbeiten, Reihen-Häuser in Villers erstanden und waren gelegentlich von Nachbarn angepöbelt worden. Einer ihrer Sprecher empört sich: "Wir haben uns die Häuser mühsam erspart, wir pendeln täglich nach Paris, wo wir vom Morgengrauen bis spätnachts arbeiten, zahlen hier Steuern, beschäftigen hier Kindermädchen und müssen uns dann noch beflegeln lassen."
Aber in der FN-Führung um Marine Le Pen schielt man auch auf Wählergruppen, die bisher diese Partei ablehnten, darunter die Karibik-Franzosen. Im Jänner musste Briffaut zu Kreuze kriechen und eine eigene Zeremonie in Gedenken an die Sklaverei vor dem Denkmal von Alexandre Dumas nachholen.
Kleine Schritte
"Es ist eine Politik der kleinen Schritte", analysiert ein kritischer Kommunalbeamter: "Mal wird eine Subvention für einen nicht genehmen Elternverein gestrichen, mal wird die Gratismahlzeit für Kinder von Arbeitslosen in den Schulkantinen abgeschafft, mal ziehen Leute, die sich im Kulturbereich engagierten, von sich aus den Hut. Es ist eine leise Säuberung."
So leise, dass auch Parteigänger der Konservativen den FN-Politiker für wählbar erklären. Ein Aktivist der UMP (die Partei von Nicolas Sarkozy, der jede Allianz mit dem FN ausschließt) stimmte für Briffaut, als dieser in der Stichwahl dem SP-Bürgermeister gegenüberstand: "Ich weiß schon, dass der Front National Frankreich aus dem Euro und der EU führen möchte. Aber dazu wird es nie kommen."
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