"Ziel ist, Tragödien zu verhindern"

"Unglaubliche Risiken": Zu Dutzenden pferchen sich Flüchtlinge in Nordafrika auf altersschwache Schlauchboote. Schiffe der Mission Mare Nostrum bringen sie in Sicherheit.
Der Kommandant der Rettungsaktionen der italienischen Marine im KURIER-Interview.

Kapitänleutnant Massimo Vianello (54) vom Marineschiff San Giorgio ist als Verantwortlicher der Operation "Mare Nostrum" derzeit im Dauereinsatz. Der KURIER hat ihn während der Fahrt zu einer Rettungsaktion vor der libyschen Küste erreicht.

Seit dem tragischen Flüchtlingsunglück mit mehr als 360 Toten vor der Insel Lampedusa im Oktober 2013 hat die italienische Marine mit sieben Schiffen eine breit angelegte humanitäre Mission im Mittelmeer gestartet. Italien kann jedoch die hohen Kosten (9 Mio. Euro pro Monat) des Mare-Nostrum-Einsatzes nicht mehr länger allein stemmen. Premier Matteo Renzi appellierte mehrfach an Europa, Verantwortung für den Rettungseinsatz im Mittelmeer zu übernehmen. Beim EU-Gipfel Ende der Woche (26. und 27.6.) in Brüssel will Renzi die Migrationsfrage in den Mittelpunkt rücken.

KURIER: Immer mehr Boote aus Nordafrika treffen in Sizilien ein. Wie ist die aktuelle Lage?

"Ziel ist, Tragödien zu verhindern"
Capitano di vascello Massimo Vianello
Massimo Vianello: Die Situation ist weiterhin kritisch. Die Wetterverhältnisse sind gut und soeben haben wir die Nachricht von der Präsenz von Flüchtlingsbooten erhalten.(Anmerkung: 36 Stunden später werden 360 gerettete Flüchtlinge in Palermo eintreffen). Wir verfolgen zwei Ziele mit der groß angelegten Rettungsaktion: zum einen die humanitäre Seite, wir wollen aber auch dem internationalen Menschenhandel die Stirn bieten. Dank der Mission Mare Nostrum konnten wir seit Oktober 2013 über 56.000 Personen, darunter 5229 Frauen und 5842 Kinder retten. Außerdem gelang es der Polizei, 200 Personen zu verhaften, die der Schlepperei verdächtigt werden. Um Verdächtige ausfindig zu machen, sind Hinweise der Überlebenden an Bord zentral.

Welche Situation hat Sie in den vergangenen Wochen am meisten berührt?

Die Leute nehmen bei der Überfahrt unglaubliche Risiken auf sich. Die meisten sind Flüchtlinge aus Eritrea und Somalia, die über Libyen nach Italien kommen. Aufgrund des Krieges kommen immer mehr Syrer, die zum Großteil in Ägypten starten. Die Leute setzen ihr Leben in völlig überfüllten Schlauchbooten – oft sind bis zu 110 Personen an Bord – aufs Spiel. Auch Holzboote mit bis zu 300 Personen oder völlig überlastete Fischerboote mit bis zu 400 Personen sind tage- und oft sogar wochenlang unterwegs. Oder wir finden auch havarierte Segelboote mit 40 Leuten. In allen Fällen handelt es sich um Bootswracks, mit denen in Europa niemand es wagen würde, auch nur ein paar Meter auf das Meer hinauszufahren. Auf den völlig überfüllten Booten fehlen natürlich jegliche Sicherheitsvorkehrungen.

Was sind die größten Herausforderungen der Mission Mare Nostrum?

Die Schwierigkeit ist die Größe unseres Einsatzgebietes, das mit über 61.000 Quadratkilometern fast drei Mal so groß wie Sizilien ist. Das erfordert enorme Anstrengungen und Logistik bei der Überwachung. Die meisten Rettungsaktionen passieren auf halber Strecke zwischen der süditalienischen Insel Lampedusa und der libyschen Küste. Unsere Militärschiffe bringen die geretteten Flüchtlinge nach Rücksprache mit der Kommandozentrale in Rom – nachdem Lampedusa geschlossen wurde – entweder in die sizilianischen Häfen von Pozzallo, Porto Empedocle oder Palermo, oder auch nach Taranto in Apulien. Die Mission Mare Nostrum ist natürlich nicht die Lösung der Flüchtlingsströme. Aber unser Ziel ist es, weitere Tragödien im Meer zu verhindern und einzugreifen, wo Not herrscht. Mit Sicherheit konnten sehr viele Tote verhindert werden.

Welcher Moment ist bei der Rettungsaktion, nachdem Sie ein Flüchtlingsboot in Seenot ausfindig machen konnten, am kritischsten?

Sicher der Moment, wenn wir uns den Flüchtlingsbooten nähern. Dabei muss man sehr aufpassen, weil die Leute automatisch aufstehen, wenn sie die Marineboote sehen und dadurch die Gefahr verstärken, dass die Boote kentern. Die Rettung erfolgt schrittweise. Wir nähern uns mit kleinen Booten, verteilen die Rettungsringe und versuchen, die Leute zu beruhigen, bevor wir vorsichtig alle an Bord bringen.

An Bord gibt es ein Protokoll, mit dem die Polizei versucht, die Personen zu identifizieren. Zudem finden Gesundheitskontrollen statt, auch in Zusammenarbeit mit NGOs. Die meisten Flüchtlinge sehen Italien als Durchgangsstation – viele wollen zu Verwandten nach Nordeuropa, Großbritannien und Frankreich.

Mare Nostrum 920 Militärs der italienischen Marine sind an der Rettungsaktion Mare Nostrum („Unser Meer“) beteiligt. Die Kosten von Mare Nostrum betragen 9,3 Millionen Euro pro Monat.

Ansturm Allein seit Jänner haben bisher 65.000 Migranten Italiens Küsten erreicht, im gesamten Vorjahr waren es 43.000. Viele Hundert Flüchtlinge sind im Mittelmeer ertrunken. Gemessen an Syriens Nachbarländern (Libanon und Türkei mit jeweils über einer Million syrischer Flüchtlinge, Jordanien mit 800.000 Syrern) und anderen Ländern der Welt beträgt der Anteil an syrischen Flüchtlingen in der gesamten EU weniger als ein Prozent.

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