Lampedusa: "Mörder"-Rufe für die EU-Spitze

Folter ist auf dem Vormarsch, berichtet Amnesty in einem neuen Bericht.
Barroso und Malmström besuchten unter Protest das Flüchtlingslager der Insel – die Zahl der Toten ist auf 296 gestiegen.

Nach der Flüchtlingstragödie vom vergangenen Donnerstag vor der Küste Lampedusas haben EU-Kommissionspräsident Jose Manuel Barroso und EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström bei ihrem Aufenthalt auf der Insel am Mittwochvormittag das Auffanglager besucht, in dem über 800 Migranten untergebracht sind, obwohl es nur für maximal 250 Personen geeignet ist

„Mörder“-Rufe

Der Besuch stand zwar nicht auf dem Programm, die beiden Politiker beschlossen jedoch, das Auffanglager zu besichtigen, nachdem Bewohner der Insel und Flüchtlinge wegen den unmenschlichen Bedingungen in der chronisch überbelegten Struktur protestiert hatten.

Lampedusa: "Mörder"-Rufe für die EU-Spitze
epa03902996 Activists's protest as European Commission President Jose Manuel Barroso and Italian Premier Enrico Letta pass by in cars upon their arrival in Lampedusa, Italy, 09 October 2013. A top-level European Union delegation visiting the southern Italian island of Lampedusa to commemorate the victims of last week's migrant shipwreck faced a hostile reception from residents. According to a provisional death toll, 289 people died in the 03 October accident. There were 155 survivors, but scuba divers were still searching for dozens of victims on the sunken wreck, which is lying at a depth of almost 50 meters. Dozens of people heckled European Commission President Jose Manuel Barroso and other EU representatives as they visited the airport hangar where the dead have been piled up. EPA/CORRADO LANNINO BEST QUALITY AVAILABLE
Eine Gruppe von Inselbewohnern hatte "Schande, Schande!" und "Mörder!" gerufen, als Barroso und Malmström den Hangar mit den bisher geborgenen Todesopfern der Tragödie unweit des Flughafens von Lampedusa betraten. Die beiden EU-Spitzenpolitiker waren vom italienischen Premier Enrico Letta und Innenminister Angelino Alfano begleitet worden. Die Demonstranten entrollten Transparente mit Slogans gegen die EU, die beschuldigt wurde, Lampedusa sich selbst bei der Bewältigung des massiven Flüchtlingsstroms aus Nordafrika überlassen zu haben. Die Demonstranten kritisierten, dass Barroso und Malmström keinen Besuch im Auffanglager der Insel planen – deshalb später der kurze Abstecher.

30 Millionen Euro für Italien

Lampedusa: "Mörder"-Rufe für die EU-Spitze
epa03902995 (L-R) Lampedusa's mayor Giusi Nicolini (with sash), Italian Prime Minister Enrico Letta and European Commission President Jose Manuel Barroso walk together before visiting the reception center in Lampedusa, Italy, 09 October 2013. Others are not identified. A top-level European Union delegation visiting the southern Italian island of Lampedusa to commemorate the victims of last week's migrant shipwreck faced a hostile reception from residents. According to a provisional death toll, 289 people died in the 03 October accident. There were 155 survivors, but scuba divers were still searching for dozens of victims on the sunken wreck, which is lying at a depth of almost 50 meters. Dozens of people heckled European Commission President Jose Manuel Barroso and other EU representatives as they visited the airport hangar where the dead have been piled up. EPA/CORRADO LANNINO BEST QUALITY AVAILABLE
Der italienische Verteidigungsminister Mario Mauro forderte von der EU mehr Ressourcen, damit die Grenzschutzagentur Frontex effizienter handeln könne. Man müsse den gesamten Mittelmeerraum von Zypern bis Spanien patrouillieren und den Menschenhandel aktiv bekämpfen. Mauro hob die Leistungen der italienischen Marine und der Küstenwache hervor, die in zehn Jahren über 120.000 Menschen gerettet habe.

Auch Italiens Präsident Giorgio Napolitano bezeichnete die Flüchtlingswelle aus Nordafrika als „europäische Tragödie“. Bei einem Besuch in Krakau betonte Napolitano, dass im südlichen Mittelmeerraum das Recht der Menschen auf Leben gefährdet sei. Die Lebensbedingungen seien nicht nur vom politischen und wirtschaftlichen Aspekt, sondern auch von den Menschenrechten extrem schwer. Barroso hat auf diese Kritik reagiert: Die EU wird Italien 30 Millionen Euro zur Bewältigung des Flüchtlingsnotstands zur Verfügung stellen.

Rom verdoppelt Aufnahmefähigkeit

Italien selbst will sich dafür einsetzen, mehr Asylanträger und Flüchtlinge aufzunehmen. „Wer nach Italien kommt, um Asyl zu beantragen, weil er schwierigen Situationen entflieht, soll wissen, dass Italien ein demokratisches und aufnahmefähiges Land ist. Flüchtlinge müssen jedoch Asyl antragen. Oft wollen sie jedoch nicht in Italien bleiben, sondern andere europäische Länder erreichen“, so der italienische Innenminister Angelino Alfano. Schon jetzt habe Italien seine Aufnahmefähigkeit verdoppelt, so Alfano. Letta bestätigte, dass seine Regierung das geltende Einwanderungsgesetz überdenken werde.

Das seit 2002 geltenden Gesetz "Bossi-Fini" macht Einwanderung ohne Aufenthaltsgenehmigung zur Straftat. Das von der damaligen Rechts-Regierung beschlossene Gesetz gibt den Behörden zudem das Recht, Flüchtlinge bis zu 18 Monate in Auffangzentren zur Identitätsfeststellung festzuhalten. Die rechtspopulistische Oppositionspartei Lega Nord lehnt eine Änderung des von ihrem Gründer Umberto Bossi entworfenen

Knapp 300 Opfer

Taucher haben am Mittwoch vor Lampedusa inzwischen die Suche nach Leichen fortgesetzt. Bisher wurden 296 Todesopfer geborgen. Noch immer werden Dutzende Menschen vermisst. Nach Angaben von Überlebenden befanden sich 518 Personen an Bord. 155 Menschen wurden gerettet. Das gekenterte Boot liegt in rund 40 Meter Tiefe.

Wie können Katastrophen wie vor Lampedusa mit Hunderten toten Flüchtlingen künftig verhindert werden? Das Überwachungssystem Eurosur soll ab Dezember dafür sorgen, dass Menschen früher entdeckt werden, die über das Mittelmeer oder die östlichen Außengrenzen rechtswidrig in die EU gelangen wollen. Neben neuen Aufklärungssystemen sind ein intensiverer Datenaustausch und eine verbesserte Kommunikation zwischen den Behörden geplant. Am Donnerstag stimmt das Europäische Parlament über die Einführung des Systems ab, dessen Koordination die EU-Grenzschutzagentur Frontex übernimmt.

"Die Drecksarbeit erledigen andere für die EU"

Doch die Einführung und Wirksamkeit von Eurosur ist umstritten. So kritisierte die Grünen-Abgeordnete und Expertin für Asylfragen, Ska Keller, die Konzentration auf die Abwehr von Flüchtlingen im Mittelmeer. Erst auf Druck der Grünen fordere das Parlament nun, die Rettung von Flüchtlingen in Seenot in die Aufgabenliste von Eurosur aufzunehmen. "Die Schlepper werden durch eine stärkere Überwachung des Meeres trotzdem nicht gestoppt." Sie sei auch deshalb skeptisch, weil im Zuge des Programms bilaterale Abkommen mit nordafrikanischen Staaten wie etwa Libyen geschlossen würden. Mithilfe von Eurosur würden die dortigen Behörden dann informiert, um die Flüchtlingsboote frühzeitig abzufangen. "Die Drecksarbeit erledigen also andere für die EU", sagte Keller.

Keine Drohnen-Einsätze

Dagegen sagte der stellvertretende Frontex-Direktor Gil Aria zu Reuters, dass Abkommen mit Drittländern im Zuge von Eurosur erst nach einer Erprobungsphase eingeführt werden sollten. Die neuen Instrumente seien vor allem als Plattform zu sehen, mit der die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten verbessert werden soll. "Es gibt aber derzeit keine Pläne, im Rahmen von Eurosur Drohnen einzusetzen", stellte Arias klar und reagierte damit auf Medienberichte, wonach auch unbemannte Flugzeuge zur Überwachung von Flüchtlingsrouten über dem Mittelmeer kreisen sollen. Die Aufgabe von Frontex mit derzeit 300 Mitarbeitern bestehe vor allem in der Koordination. Zudem liefere seine Agentur Ausrüstung wie Boote oder Hubschrauber in die Regionen Europas, in denen eine bessere Überwachung der Grenzen notwendig sei.

"Das vorrangige Ziel von Frontex sind keine Rettungsaktionen, aber natürlich leisten wir im Bedarfsfall Hilfe." In diesem Jahr seien mithilfe von Frontex rund 16.000 Menschen aus Seenot gerettet worden, vornehmlich vor der italienischen Küste. Der Vorsitzende der Liberalen im EU-Parlament, der Belgier Guy Verhofstadt, kritisierte, dass das Budget von Frontex gegenüber 2011 um 30 Millionen auf 85 Millionen Euro in diesem Jahr gekürzt worden sei. "Das ist weniger, als Real Madrid für einen Fußballspieler aus der britischen Premier League zahlt." Die Agentur begann ihre Arbeit 2004 und soll neben der Bereitstellung von Equipment die nationalen Grenzschutzeinheiten vornehmlich durch Ausbildung und Analyse unterstützen.

Unabhängig von den Diskussionen um Frontex und Eurosur fordert der deutsche Europa-Abgeordnete Manfred Weber (CSU), die Situation der Menschen in den Heimatländern wieder stärker in den Vordergrund zu rücken. "Wir müssen nach der Schuldenkrise unsere Nabelschau in Europa beenden und uns um die Lage in anderen Regionen kümmern." Die wirtschaftlichen Probleme Afrikas seien nicht durch mehr Zuwanderung nach Europa zu lösen.

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