Das Mittelmeer als riesiger Friedhof

Ankunft in Catania, Sizilien: Diese Flüchtlinge hatten Glück, sie wurden gerettet, ehe ihr überfülltes Boot vor Lampedusa sank.
Sizilien kann den Strom von Bootsflüchtlingen kaum noch bewältigen – und gibt der EU Mitschuld.

Siebzehn Särge, darunter auch kleine weiße Kindersärge, stehen dicht nebeneinander im Hafen von Catania. Unter den Opfern des neuerlichen Flüchtlingsdramas, das sich zu Wochenbeginn, 160 Kilometer vor der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa ereignet hatte, sind auch ein wenige Monate altes Baby und ein zweijähriges Mädchen. Ein achtjähriger Junge, dessen Mutter sich nicht aus dem untergehenden Boot retten konnte, bricht bei dem Anblick der Särge in Tränen aus.

"Es waren viele Frauen und Kinder an Bord", berichtet ein Überlebender. Unter den 207 Überlebenden des Schiffbruchs sind viele Eriträer, Somali und syrische Flüchtlingsfamilien. „Es ist nicht möglich zu sagen, wie viele Leute ertrunken sind“, erklärte Stefano Frumento, Kapitän des Militärschiffes, das sich an der Rettung beteiligte. „Mit Sicherheit dürften Dutzende Menschen ertrunken sein, als das Schiffswrack sank.“ Gespenstisch wirkt die Szene, als ein riesiges Luxus-Kreuzfahrtschiff in dem Moment am Kai anlegt und ein Leichenwagen-Konvoi die hölzernen Särge abtransportiert.

Viele Städte und Orte auf Sizilien befinden sich seit Monaten im Ausnahmezustand. Allein in der vergangenen Woche trafen 61 weitere somalische Kinder, die von der italienischen Marine aufgegriffen wurden, in Porto Empedocle ein. 400 Menschen gingen am Mittwoch in der westsizilianischen Hafenstadt Trapani an Land, wo die völlig überfüllten Einrichtungen niemanden mehr aufnehmen können.

Kurze Betroffenheit

Der Betroffenheit der verantwortlichen EU-Politiker nach der bisher größten Flüchtlingskatastrophe vor der Insel Lampedusa am 3.Oktober 2013, bei der 366 Menschen aus Eritrea, Somalia und Ghana, darunter 41 Kinder, ums Leben kamen, währte nur kurz.

Die Tageszeitung La Repubblica veröffentlichte Videos der Polizeitaucher über die größte Tragödie im Mittelmeer. Die erschütternden Bilder zeigen hunderte Leichen am Meeresboden, gefangen im untergegangen Schiffswrack. Jeder der 366 Toten zahlte rund 3000 Dollar für Überfahrt an Menschenhändler. Täglich spielen sich im Mittelmeer – nicht weit von Urlauberparadiesen entfernt – Tragödien ab, vor denen Europa die Augen verschließt.

Europa mit seiner Selbstsucht und seiner restriktiven Einwanderungspolitik fährt weiter damit fort, das Mittelmeer in eine immensen Friedhof zu verwandeln“, kritisiert Palermos Bürgermeistern Leoluca Orlando. Die Tragödien werden sich so lange wiederholen, prophezeit Orlando, solange man Migranten als Feinde betrachte, vor den man sich schützen müsse. Und sie damit in die Hände von skrupellosen und kriminellen Schlepperorganisationen treibe.

Die EU-Grundrechteagentur FRA fordert ebenfalls, dass das Bild von Migranten in der Bevölkerung positiver dargestellt wird, und verweist auf deren Beitrag zur Wirtschaftsleistung im jeweiligen Land.

Auch Papst Franziskus hat bei der Generalaudienz auf dem Petersplatz erneut daran appelliert, Menschrechte immer an erste Stelle zu setzen. Der Pontifex rief zur Hilfe für die Bootsflüchtlinge auf: „Schließen wir die Opfer im Mittelmeer, die dieser Tage ihr Leben verloren haben, in das Gebet ein. Alle müssen gemeinsam nach Kräften daran arbeiten, um diese beschämenden Massaker zu verhindern.“

Jedes Monat fliehen 100.000 Syrer vor dem Krieg aus ihrer Heimat", schildert Amin Awad, UNHCR-Koordinator für syrische Flüchtlinge. Umso wichtiger sei es, so drängt Awad im KURIER-Gespräch, dass Syriens Nachbarländer ihre Grenzen weiter offen halten, aber auch Europa mehr Flüchtlinge aufnimmt. Amin Awad über ....

... den nicht abreißenden Flüchtlingsstrom aus Syrien Wir befinden uns jetzt im vierten Krisenjahr. In den Nachbarländern Syriens hat die UNO bisher 2,8 Millionen Flüchtlinge registriert. Zusammen mit jenen, die sich nicht offiziell gemeldet haben, bedeutet das also: Es gibt weit über drei Millionen Flüchtlinge. In Syrien selbst sind 6,5 Millionen Flüchtlinge geworden und weitere drei Millionen Menschen haben keinen Zugang mehr zu medizinischer Versorgung oder zu Schulen – insgesamt reden wir da von etwa der Hälfte der syrischen Bevölkerung.

... Belagerungen wie im MittelalterIn Syrien gibt es sechs belagerte Regionen, vier werden von der syrischen Armee, zwei von den Rebellen belagert. Das muss man sich vorstellen wie im Mittelalter: Keiner kann dort rein, keiner raus – dort gibt es kein trinkbares Wasser, kein Essen, keine Medizin, keine Sanitäranlagen, aber dafür ständige Angriffe und Bombardierungen. Die Leute essen Gras oder Körner. Insgesamt betrifft es rund 240.000 Menschen. Nur dank manchmal eintreffender Hilfslieferungen können sie mit größten Mühen überleben.

... die schwierige Arbeit des UN-Flüchtlingshilfswerkes in Syrien Das UNHCR hat in Syrien sieben Büros. Es ist äußerst schwierig, sich von einem Punkt zu einem anderen zu bewegen. Es gibt an die 1000 verschiedene Gruppen, die im Land kämpfen.Wer auf der Straße fährt, muss unzählige Kontrollen durch Bewaffnete an Checkpoints überwinden. Zwischen 70 bis 80 der kämpfenden Gruppen kontrollieren Checkpoints, und mit jedem Einzelnen von ihnen muss man sich seine Weiterfahrt neu ausverhandeln.

... die Hoffnung auf ein Ende des Krieges Für Syrien gibt es keine militärische Lösung, und eine politische Lösung ist nicht in Sicht. Wenn weiter Monat für Monat 100.000 Syrer pro Monat aus dem Land fliehen, kann man sich leicht ausrechnen, dass wir bis Ende 2014 über vier Millionen Flüchtlinge haben werden. Die Frage ist: Wie sollen das die fünf Länder aushalten, die am meisten Flüchtlinge aufgenommen haben: Libanon, Jordanien, Irak, Türkei und Ägypten? Wie lange werden sie politisch stabil bleiben?

... das Zurückschicken von Flüchtlingen Die Grenzen müssen unbedingt offen gehalten werden. Und auch an Europa geht die Bitte, die Grenzen zu öffnen und mehr Flüchtlinge aufzunehmen. Der kleine Libanon hat über eine Million Flüchtlinge aufgenommen. Auf Österreich umgemünzt wäre das so, als ob man hier zwei Millionen Flüchtlinge im Land hätte.

... Österreichs Angebot, 1500 syrische Flüchtlinge aufzunehmen Man versucht in Österreich, alles richtig zu machen, den Flüchtlingen eine gute Aufnahme zu ermöglichen und sie auch zu integrieren, und das braucht Zeit. Aber es reicht nicht. Seit Kriegsbeginn haben 3750 Syrer in Österreich um Asyl angesucht, und 2000 haben es bisher erhalten.

... die lebensgefährliche Fluchtroute übers Mittelmeer Etwa ein Viertel jener Menschen, die im Vorjahr in Booten übers Mittelmeer nach Europa kamen, sind Syrer. Von ihnen wiederum sind zehn Prozent nie angekommen, ertrunken, verschwunden, gestorben. Der Weg über das Mittelmeer, das ist sehr, sehr gefährlich.

Rund 36.000 Menschen schafften es allein 2014 über das Mittelmeer nach Italien – vor allem aus Libyen (96 Prozent). Wie viele es (noch) nicht geschafft haben, weiß niemand. Tausende Leichen sollen vor der Küste Libyens und vor der Küste Süditaliens liegen, Tausende dazwischen. Gegen die Zahl jener Menschen, die in libyschen Häfen auf die Reise im Boot warten, erscheint diese Zahl sehr klein.

Zwischen 300.000 und 1,25 Millionen belaufen sich die Schätzungen. Bei einer Bevölkerung von gut 6 Millionen. Sie sitzen hier in Libyen in der „Zwischenstation“ fest – auf der Suche nach einem sichereren oder würdevolleren Leben weiter im Norden. Manchen von ihnen ist das Geld ausgegangen, manche wurden beim Ablegen mit dem kleinen Boot erwischt und festgenommen, manche warten noch auf ihren Fluchthelfer, manche waren sogar schon in Italien – und wurden zurückgeschickt. „Ich habe es schon dreimal versucht“, sagt Mohammed dem Telegraph. „Jedes Mal bin ich erwischt worden. Jetzt hat meine Mutter in Eritrea nichts mehr, was sie verkaufen kann. Ich sitze fest.“

1600 Dollar hatte er für die Überstellung per Boot bezahlt. Aber das war noch lange nicht alles. 4000 Dollar kostete die Reise im Land Cruiser aus Eritrea heraus, 2000 musste er Ägyptischen Beamten als Bestechung zahlen.

Dass die Situation für Migranten – besonders Menschen mit schwarzer Hautfarbe – in Libyen sehr schlecht ist, ist seit Jahren bekannt. Es gibt 19 offizielle Auffanglager für Flüchtlinge im Land, doch die Zustände in den meisten seien unerträglich, sagt ein Menschenrechtsaktivist zum KURIER. Es soll zudem noch Lager geben, die von Milizen, Kriminellen oder Menschenhändlern geführt werden. Doch über die ist offiziell wenig bekannt. In vielen Lagern berichten afrikanische Flüchtlinge von Folter und Misshandlungen. Ganz abgesehen von der hygienischen Situation.

Gelobtes Land

Europa gilt weiter als das „gelobte Land“ der vielen Afrikaner, die in Libyen auf der Flucht sind. Das populärste Ziel ist seit der Dublin-Regelung aber Norwegen. Denn das Nicht-EU-Land sende keine Flüchtlinge zurück, erzählt man sich dort.

Libyen gilt schon lange als Durchreiseland für Migranten aus Sub-Sahara, aber auch aus Nordafrika. 2009 schloss Gaddafi ein Freundschaftsabkommen mit Italien gegen die Bootsfahrten übers Mittelmeer und ging extrem hart gegen Flüchtlinge und Schlepper vor. Die Zahlen der Schiffsflüchtlinge aus Libyen sanken gegen Null. Als 2011 der Bürgerkrieg ausbrach, brachen auch die Grenzen auf – in alle Richtungen. Zwar wurde die libysche Marine im Vorjahr wieder aufgebaut, aber die vier Schiffe, die jetzt vor der Küste patrouillieren, haben die Situation nicht im Griff. Hinzu kommt die immer fragilere Sicherheitssituation in Libyen. Gegenüber dem Telegraph geben Schmuggler sogar zu, dass es derzeit extrem leicht ist, „Drogen, Waffen und Menschen“ ins Land zu schmuggeln. „Die Regierung hat keine Kontrolle über all die Grenzen im Süden“, sagt Ziad Ali Arhuma von der libyschen Küstenwache. Innenminister Salah Mazek drohte kürzlich den Europäern: Wenn die EU nicht helfe, werde Libyen die Flucht vereinfachen.“

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