Die Kehrseite der Olympia-Medaille

Von der Armensiedlung "Vila Autodromo" blieb fast nichts mehr übrig
Rio de Janeiro putzt sich vor den Spielen heraus, vielfach auf Kosten der Ärmsten. Ein Lokalaugenschein.

"Da war der Spielplatz für unsere Kinder, dort der Supermarkt, und hier stand mein Haus." Eine Mischung aus Wehmut und ungebrochenem Kampfgeist schwingt mit, wenn Maria da Penha (Bild unten) durch ihre devastierte Armensiedlung (Favela) führt. "Vila Autodromo" heißt sie. Früher gaben in unmittelbarer Nähe die Formel-1-Boliden auf dem Rundkurs Jacarepagua Vollgas, zuletzt waren es die Baggerfahrer. Denn die "Vila", westlich des Zentrums der brasilianischen Atlantik-Metropole Rio de Janeiro, grenzt direkt an den Olympia-Park, der für den Mega-Sportevent (ab 5. August) herausgeputzt wurde. Für die elendiglichen Hütten war da kein Platz mehr.

Nobelviertel entsteht

Die Kehrseite der Olympia-Medaille
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"Unser Haus haben sie heuer ausgerechnet am 8. März zerstört, dem Weltfrauentag", sagt die zierliche 50-Jährige. Weichen will sie, die mit ihrem Ehemann seit 23 Jahren hier wohnt, aber weiterhin nicht. Einerseits habe sie gültige Pacht-Dokumente, andererseits wolle sie sich den Immobilienspekulanten nicht beugen. "Die Grundstückspreise bei uns haben total angezogen, weil nach den Spielen um den Olympia-Park ein Nobelviertel entstehen soll", erläutert Maria da Penha, der bei einer früheren Räumungsaktion von der Polizei einmal die Nase gebrochen wurde.

Gemeinsam mit 30 anderen Familien harrt sie in ihrer "Vila" weiter aus und hat Unterschlupf gefunden bei Bekannten, deren vier Wände von der Abrissbirne noch verschont wurden. Ihre wenigen Habseligkeiten hat sie wie andere in der Kirche zwischengelagert, die sich wie eine Trutzburg zwischen Schutthaufen und Häuserruinen erhebt. Zwischen den Gebetsbänken stapeln sich Hausrat, Gewandsäcke, Bücherschachteln oder Ventilatoren. Die Sonntagsmesse findet daher im Freien statt.

65.000 umgesiedelt

"Nach unseren Schätzungen wurden rund 65.000 Menschen wegen Olympia zwangsumgesiedelt. Viele davon in Gegenden 50 bis 60 Kilometer von ihren bisherigen Domizilen entfernt. Dort gibt es aber keine Infrastruktur wie Schulen oder Busverbindungen", schildert Sandra Quintela von der Menschenrechtsorganisation PACS, die von der Dreikönigsaktion, dem Hilfswerk der Katholischen Jungschar, unterstützt wird. Der Großteil der Umsiedlungen finde dort statt, wo die Immobilienpreise stark gestiegen seien: In ganz Rio schnellten sie seit 2012 um durchschnittlich 30 Prozent in die Höhe, in und um manche Favelas um mehrere Hundert Prozent.

Um die Armen dort loszuwerden, setzen die Behörden auf Zuckerbrot und Peitsche. "Uns haben sie gesagt, dass die ersten 100, die wegziehen, ein Appartement mit drei Zimmern bekommen", so Antonio da Silva. Der Techniker nahm an, packte im März 2014 seine sieben Sachen in der "Vila Autodromo" und zog mit seiner Frau und den beiden Kindern in einen Kasernen-ähnlichen Zweckbau in der Nähe. Auch ein Geschäftslokal, das er in seiner alten Umgebung sehr wohl hatte, wurde ihm versprochen.

Zum Nichtstun verdammt

"Doch das habe ich bis heute nicht, und so kann ich meiner Arbeit als Kühlschrank-Techniker nicht nachgehen", ärgert sich der 53-Jährige. So ist er zum Nichtstun verdammt. Die Werkzeugtasche steht zwar stets griffbereit unter dem Esstisch im kleinen Wohnzimmer – wird aber nur selten hervorgeholt. Die wenigen Reparaturarbeiten, zu denen er gerufen wird, bringen nicht das nötige Geld, um die Familie zu ernähren. Auch einen Rechtstitel für die Wohnung hat da Silva noch immer nicht. Daher darf er sie weder vermieten noch verkaufen. Sein bitteres Resümee: "Nochmals würde ich das nicht machen."

Die Fischer der Guanabara-Bucht, in der die olympischen Segelbewerbe stattfinden werden, sehen sich ebenfalls als Opfer der Spiele. "Der vordere Teil wird für die Athleten gesäubert und ist dann für uns Fischer Sperrgebiet, und im hinteren Teil bleibt uns nur der Dreck. Das ist Apartheid", empört sich Alexandro Anderson.

Er setzt sich seit Jahren für seine Kollegen ein, deren Fänge durch die Öl- und Gas-Aktivitäten des staatlichen Multis Petrobras ohnehin schon existenzbedrohend zurückgegangen sind. Mit Olympia soll es noch schlimmer werden: "Um den Besuchern (erwartet werden bis zu einer Million ausländischer Gäste) den Anblick der großen Tanker vor der Copacabana zu ersparen, sollen die Giganten in den Gewässern vor unseren Dörfern ankern", so der 45-Jährige.

Zehn Milliarden Euro

Wie andere Aktivisten sozialer Bewegungen kritisiert Anderson zudem die hohen Kosten, die die Sportveranstaltung verschlingt. Umgerechnet zehn Milliarden Euro werden es sein, in etwa gleich viel, wie die Fußball-Weltmeisterschaft in Brasilien vor zwei Jahren gekostet hat – während es im Bildungs- und Gesundheitsbereich an allen Ecken und Enden fehlt. Rio de Janeiro hatte zuletzt nicht einmal genug Geld, um pensionierte Beamte und Lehrer zu bezahlen. Unzufriedene könnten die olympischen Spiele, bei denen das Land im Fokus der Weltöffentlichkeit stehen wird, nutzen, um auf ihre Probleme aufmerksam zu machen.

Zu diesem Zeitpunkt freilich könnten Maria da Penha und die 30 anderen unbeugsamen Familien der "Vila Autodromo" die Ernte ihres Kampfes endlich eingefahren haben. Die Behörden haben den letzten Verbliebenen nämlich zugesichert, an Ort und Stelle neue, moderne Unterkünfte zu errichten. "Unser Einsatz hat sich gelohnt", freut sich die engagierte Frau und lächelt.

Zu den Sportveranstaltungen werde sie wegen der hohen Eintrittspreise wohl nicht gehen, "aber vielleicht bekomme ich ja dann vom Obergeschoß meines neuen Hauses etwas davon mit, was sich im Olympia-Park abspielt".

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