45.000 syrische Kurden seit Freitag in Türkei geflüchtet

Hunderte Flüchtlinge an der syrisch-türkischen Grenze, am 19. September 2014.
Tausende hatten sich an der Grenze versammelt. Die Türkei befreite zudem 49 Geiseln.

Die Türkei sieht sich mit einem gewaltigen Ansturm von Kurden konfrontiert, die aus Syrien vor der Extremistenmiliz "Islamischer Staat" (IS) fliehen. Der stellvertretende Ministerpräsident Numan Kurtulmus sagte am Samstag dem TV-Sender CNN Turk, seit der Öffnung eines Grenzabschnitts am Freitag seien etwa 45.000 syrische Kurden in die Türkei gekommen.

Hintergrund ist eine seit Tagen laufende IS-Offensive im Norden Syriens gegen kurdische Milizen. Die sunnitischen Islamisten haben in Teilen des Bürgerkriegs-Landes und im Irak ein Kalifat ausgerufen und gehen dort mit Brutalität gegen alle vor, die sie als Ungläubige ansehen. Dazu gehören schiitische Muslime ebenso wie Kurden und Christen. Im Irak gelang es den Streitkräften inzwischen mit internationaler Unterstützung und der Hilfe kurdischer und schiitischer Milizen, die Gruppe teilweise zurückzudrängen. Bei den jüngsten Gefechten sollen 18 IS-Kämpfer getötet worden. In der Region an der Grenze zur Türkei hatten IS-Kämpfer in den vergangenen beiden Tagen etwa 60 kurdische Dörfer eingenommen.

45.000 syrische Kurden seit Freitag in Türkei geflüchtet
epa04407986 Syrians within a group of hundreds of refugees wait near the Turkish-Syrian border after fleeing Syria, near Sanliurfa, in the Suruc distric, Turkey, 19 September 2014. The Islamic State (IS) reportedly has seized three more Kurdish territories in northern Syria, taking to 24 the number of villages the militant group has captured in the area in two days, a monitoring group said on 19 September. IS has made territorial gains in northern and eastern Syria over several months, in parallel with lightning offensives that saw it seize parts in northern and western Iraq. EPA/STR
Die türkischen Behörden hatten sich zunächst geweigert, die syrischen Kurden ins Land zu lassen. Nach Protesten sah sich Ankara jedoch gezwungen, am Freitag tausende Menschen passieren zu lassen, die sich seit Donnerstag an dem mit Stacheldraht gesicherten Grenzzaun gesammelt hatten. Die türkische Regierung sprach daraufhin von einer "Ausnahme" wegen der Kämpfe in Syrien. In den Wirren des syrischen Bürgerkriegs errichteten die Kurden in den von ihnen bewohnten Gebieten im Norden des Landes eine weitgehend selbst regierte Region. Diese mussten sie wiederholt gegen Attacken der IS-Milizionäre verteidigen.

IS-Geiseln vom Geheimdienst befreit

Nach mehr als drei Monaten in der Gewalt der IS-Terrormiliz sind unterdessen 49 türkische Geiseln wieder frei. Präsident Recep Tayyip Erdogan teilte mit, der Geheimdienst MIT habe die Geiseln während einer nächtlichen "Rettungsoperation" befreit. Nähere Angaben zu den Umständen der Befreiung gab es nicht.

Die Terrormiliz hatte die Türken in ihre Gewalt gebracht, als sie am 11. Juni das Generalkonsulat im nordirakischen Mossul stürmte. Unter den Gefangenen waren der Generalkonsul und seine Familie, andere Diplomaten und Sicherheitskräfte. Die Regierung in Ankara hat die Geiseln stets als Grund dafür angeführt, warum sie sich nicht stärker im internationalen Kampf gegen die sunnitischen Extremisten engagieren könne. Sie verhängte nach der Geiselnahme eine Nachrichtensperre. Einem Bericht des Senders NTV zufolge zahlte die Türkei kein Lösegeld. Bei der Befreiungsaktion sei es auch nicht zu Zusammenstößen mit den Islamisten gekommen.

Zehn Millionen für Hinweise

Der NATO-Verbündete USA bemüht sich um eine möglichst breite Allianz gegen die Islamistenmiliz. Die Extremisten haben zwei US-Journalisten enthauptet sowie einen Entwicklungshelfer. Nach den Morden an James Foley und Steven Sotloff hat der US-Senat nun ein Gesetz beschlossen, dass eine Belohnung von zehn Millionen Dollar für Informationen aussetzt. Das Gesetz, das noch der Zustimmung des Repräsentantenhauses bedarf, aktualisiert ein Programm des Justizministeriums für Belohnungen zur Ergreifung gesuchter Personen.

13-jähriger Deutscher im Dschihad

All die internationale Anstrengung lässt dennoch den Zulauf zur Terrorgruppe nicht einreißen. Ein deutscher Zeitungsbericht meldet, dass die potenziellen Dschihadisten immer jünger werden: Nicht nur Jugendliche aus Deutschland würden sich IS anschließen, sondern auch Kinder. Der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen, sagte der Rheinischen Post: "Nach unseren Erkenntnissen sind mindestens 24 Minderjährige nach Syrien und in den Irak ausgereist." Der Jüngste sei 13 Jahre alt. Fünf Minderjährige seien inzwischen mit Kampferfahrung nach Deutschland zurückgekehrt. Unter den Jugendlichen, die sich den Terroristen angeschlossen hätten, seien vier Mädchen. Diese seien mit einer "romantischen Vorstellung einer Dschihad-Ehe" ausgereist. Sie heirateten laut Verfassungsschutz Kämpfer, die sie über das Internet kennengelernt hatten. Für Polizei und Verfassungsschutz sei es fast unmöglich, die Jihadisten vor deren Ausreise zu identifizieren. "Wir erfuhren von manchen erst durch nachrichtendienstliche Erkenntnisse von Partnerdiensten oder weil Eltern ihre Kinder als vermisst meldeten", sagte Maaßen der Zeitung.

Auch im Rest Europas rückt der Dschihad des IS näher: Belgische Ermittler haben laut einem Zeitungsbericht in den vergangenen Monaten mehrere Anschläge radikaler Islamisten abgewendet. Die geplanten Angriffen seien mit dem Anschlag im Jüdischen Museum in Brüssel vergleichbar gewesen, berichtete die Zeitung "L'Echo". Im Mai hatte ein 29-Jähriger vier Menschen erschossen. "L'Echo" zufolge haben sich bis zu 400 Belgier den Dschihadisten angeschlossen. 90 seien zurückgekehrt.

Dieses Mal ist es keine Geisel, die im Sand kniend darauf warten muss, dass ihm der schwarz vermummte IS-Terrorist an seiner Seite den Kopf abschneidet. Dieses Mal sitzt der Gefangene, der britische Fotograf John Cantlie, in einem Studio und spricht ruhig in die Kamera, als ob er durch eine Dokumentationssendung führen würde.

In ihrem neuesten Video verzichtet die radikal-islamische Terrororganisation IS ("Islamischer Staat") erstmals auf barbarische Hinrichtungsszenen, missbraucht aber ihre Geisel zu einem Propagandacoup. "Ja, ich bin ein Gefangener, das kann man nicht leugnen", sagt Cantlie emotionslos, "und ich wurde von meiner Regierung aufgegeben."

Unaufgeregt kündigt der Brite weitere Videos an, in denen er die Vorgehensweise der IS erklären werde und, "wie die westlichen Medien die Wahrheit manipulieren".

Seit zwei Jahren befindet sich der Brite in der Gewalt der IS-Terroristen. Seine Familie hatte die britischen Sicherheitskräfte gebeten, Cantlies Namen geheim zu halten, um seine Sicherheit nicht zu gefährden. Besonders tragisch: Schon einmal war der Fotograf in Syrien entführt worden, kam aber nach einer Woche wieder frei. Im November 2012 jedoch wurde er – zusammen mit dem US-Journalisten James Foley – abermals entführt. Foley ist mittlerweile tot – als erste westliche Geisel war der Amerikaner vor laufender Kamera enthauptet, das Video davon anschließend ins Netz gestellt worden.

Dutzende Geiseln

Noch immer hat der IS mindestens zwei Dutzend westliche Geiseln in seiner Gewalt. Als in der Vorwoche die britische Geisel David Haines getötet wurde, präsentierte der IS bereits sein potenzielles Hinrichtungsopfer – einen britischen Entwicklungshelfer.

Auch 49 türkische Geiseln, die beim Fall der Stadt Mossul verschleppt wurden, befinden sich seit Juni in den Händen des IS. Aus Sorge um das Schicksal ihrer Landsleute hält sich die Regierung beim international koordinierten Vorgehen gegen den IS zurück. Doch die Ängste vor einem Terroranschlag in der Türkei nehmen zu: Mindestens 2000 Türken sollen in den Reihen der IS mitkämpfen. Und viele Islamisten, so berichten türkische Medien, sollen ungehindert immer wieder die Grenze zur Türkei passieren und hier sogar ihr weiteres Vorgehen planen. Der türkische Geheimdienst habe längst die Kontrolle verloren.

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