Triumph über das Vorurteil

Nichts ist nach dem 7:1 mehr so, wie es war. Demütige Brasilianer, gar nicht goscherte Deutsche – und Österreich ist seinen Negativ-Rekord los.
Wolfgang Winheim

Wolfgang Winheim

Deutsche Spieler trösteten schluchzende Verlierer

von Wolfgang Winheim

über menschliche Gesten

Miroslav Klose, die neue alleinige Nummer 1 in der ewigen WM-Schützenliste, verzichtete bei seinem Torjubel, weil leicht angeschlagen, auf den von ihm erwarteten Salto. Promi-Experten und Meinungsbildner aber müssen einen Salto rückwärts machen.

Wie war Joachim Löws deutscher WM-Kader bekrittelt worden, weil unter 23 Mann mit dem 36-jährigen Klose nur eine Sturmspitze aufschien;

wie war das ganze deutsche Trainingslager in Südtirol, wo es ohne Verschulden der Kicker zu einem schweren Autounfall bei einer Werbeshow gekommen war, zum Chaoscamp hochdramatisiert worden;

wie sehr wurde die Fitness der Rekonvaleszenten Manuel Neuer, Bastian Schweinsteiger und Sami Khedira angezweifelt;

wie angespannt war noch in der Vorwoche nach der 120-minütigen Zitterpartie gegen Algerien das Verhältnis zwischen ang’rührten und ehemaligen Stars plus anderen obergscheiten Honorarkritikern gewesen.

Und jetzt dieses 7:1, dem Österreich übrigens verdankt, einen Negativrekord los zu sein. Denn den hatte der ÖFB seit 60 Jahren, seit dem 1:6 gegen Deutschland, als höchster Semifinal-Verlierer der WM-Fußballgeschichte gehalten.

32,5 Millionen in Deutschland und 1,8 Millionen Österreicher hockten vor den Bildschirmen. Selbst in Hälfte zwei, als die Partie längst entschieden und es bald Mitternacht war, harrten hierzulande immerhin noch 1,2 Millionen beim ORF aus. Den anderen kann erzählt werden, dass sie das tollste (durch Edeljoker André Schürrle erzielte) Tor und berührende Szenen nach Spielschluss versäumt haben.

Deutsche Spieler trösteten schluchzende Verlierer. So wie das die Brasilianer vor fünf Tagen noch mit dem kolumbianischen Wunderknaben James Rodríguez nach dessen Ausscheiden getan hatten.

Brasiliens geschlagener Feldherr Luiz Felipe Scolari umarmte und beglückwünschte jeden deutschen Spieler. Und sein Ersatz-Kapitän David Luiz sagte mit tränenerstickter Stimme ins Mikrofon, dass er verzweifelt sei, "weil wir dem brasilianischen Volk, das so viel leiden muss, keine Freude bereiten konnten".

In den Worten des Fußball-Millionärs Luiz schwang die Sorge mit, dass das 1:7 Aggression und Massendemonstrationen auslösen werde.

Wahrscheinlich war nicht nur das Fehlen von Neymar und Abwehrchef Thiago Silva schuld am Desaster.

Wahrscheinlich konnte die Seleção den Erwartungsdruck, dieses Überemotionalisieren ihrer Favoriten- und Gastgeberrolle, nicht verkraften.

Wahrscheinlich waren die Deutschen an diesem Tag für einen zur Offensive gezwungenen Gegner einfach zu diszipliniert, zu schlau, zu stark.

Und wahrscheinlich hat auch der sonst so goscherte Thomas Müller recht, wenn er auf die Euphoriebremse steigt und in Hinblick auf das Finale sagt, dass sich auf Weltklasseniveau eben jedes Spiel anders entwickle.

Müller weiß, wovon er spricht: Noch im April war er in der Champions League mit seinem FC Bayern samt Wundergoalie Neuer, Schweinsteiger und Philipp Lahm von Real Madrid mit 0:4 im eigenen Stadion gedemütigt worden.

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