Wiener Reifeprüfung

U6, du bist eine grausige U-Bahnlinie, keine Frage. Dafür ungewohnt authentisch. Zeit für eine Würdigung.

von Mag. Leila Al-Serori

über die ungeliebte U6

Freitagnacht in der U6. Wehe dem, der ohne Ausgehlaune einsteigt. Die Schuhe kleben wegen einer undefinierbaren Flüssigkeit am Boden, die abgestandene Luft mischt sich mit Alkoholdunst, dazu ein Hauch von Kebab und Zwiebeln. Die Accessoires für eine Fahrt? Ein lauwarmes Dosenbier, dazu eine Gratiszeitung.

U6, du bist eine grausige U-Bahnlinie, keine Frage. Dafür ungewohnt authentisch. In deinen überfüllten Zügen ist Wien nicht Prunk und Eleganz – sondern unprätentiös, manchmal auch hässlich. Gleichzeitig bunt und multikulti, großstädtisch wie nirgendwo sonst. Deine ockerbraune Farbe ist Programm. Zeit für eine Würdigung.

Armut, Sucht, Einsamkeit. Du transportierst all die Schattenseiten der Metropole ohne ein Murren, in 34 Minuten von einem Ende der Stadt zum anderen, den verschrienen Gürtel entlang. Immer pflichtbewusst und doch das Sorgenkind unter den Wiener-Linien-Vorzeigeschülern. In dir wird gerauft, gespuckt und gedealt. Oder schlichtweg in die Arbeit gefahren. Keine Linie befördert so viele Fahrgäste. Und keine bietet solch ein Kaleidoskop an Wiener Gesichtern.

An Hitzetagen wird die Fahrt mit dir fast unerträglich. Bei tropischen Temperaturen öffnen sich die Poren, Millionen Schweißdrüsen arbeiten gemeinsam auf Hochtouren. Ein Saunaerlebnis der Extraklasse. Selbst im Winter ist es stickig und stinkig. Die U6 gilt es zu vermeiden, sagen die Wiener daher.

Aber auch wenn wir über dich schimpfen, eigentlich bist du eine Sehenswürdigkeit. Nicht nur weil du mit 17,4 Kilometern die längste U-Bahnlinie der Stadt bist. Oder weil Otto Wagner viele deiner denkmalgeschützten Stationen entworfen hat. Wer das wahre, ungeschönte Wien sehen, die Reifeprüfung für Wien-Kenner bestehen möchte, muss dich und deine ockerbraune Farbe ertragen. In all deiner Hässlichkeit. In all deiner Pracht. Und wenn es auch nicht schön ist mit dir zu fahren, so ist es umso schöner, am Ende wieder auszusteigen. Nichts für ungut, liebe U6.

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