Die großzügige Hand, die mir gereicht wurde

KURIER-Redakteur Mirad Odobasic über seine Kindheit als bosnischer Flüchtling.
Mirad Odobašić

Mirad Odobašić

Ich wurde sechs Jahre geduldet. Ebenso wie Hunderttausende meiner Landsleute, die im Gegensatz zu mir kein Zuhause mehr hatten. Meine Heimatstadt, die ich mit einer Schülergruppe im Juli 1992 verlassen hatte, blieb von der Zerstörungswut verschont, dafür aber wegen ihrer ungünstigen, weil zentralen Lage während der über dreieinhalb Jahre währenden Angriffe auf Bosnien-Herzegowina von befeindeten Lagern umkreist und deshalb kaum erreichbar.

Mein Vater blieb in der Stadt, wohl auch deshalb blieb unsere Wohnung erhalten. Streng genommen, hätte Deutschland mich und meine später dazugekommenen Mutter und Schwester damals durchaus wieder retour schicken können. Wir hatten ja ein Wohin. Und unseren Mitbürgern flogen – zumindest nicht tagtäglich – Kugeln und Granaten um den Kopf. Der Hunger blieb ihnen hingegen ein treuer Begleiter durch den im wahrsten Sinne des Wortes düsteren Alltag – Strom und Wasser gab es portionsweise.

Ekelerregende Diskussion

Waren wir, aus der heutigen Sicht betrachtet, etwa Wirtschaftsflüchtlinge? Weil wir das nötige Etwas besaßen, um überleben zu können? Ein sehr heikel gewordenes Thema, das die Gemüter der Foren-Trolle inzwischen so sehr erhitzt, dass denjenigen die mit einem empfindlichen Magen gesegnet sind ein Blick in ähnliche Diskussionen ärztlich verboten gehört.

Diskussionen wurden sicherlich Anfang der 90er auch in Deutschland geführt, als die große Flüchtlingswelle vom Balkan Hunderttausende Menschen in den frisch vereinten Großstaat spülte. Ich spürte kaum etwas davon. Stimmt, damals war ich noch zu jung um solche Inhalte verstehen zu können, dennoch fühlte ich mich in den sechs Jahren im deutschen Exil niemals an den Rand der Gesellschaft abgestellt, wie die Flüchtlinge, die es nun nach Österreich verschlagen hat.

Bescheidenheit

Ich landete damals im Herzen des Ruhrgebiets, wo der Niedergang des Bergbaus an jeder Ecke spürbar war. In Gelsenkirchen lebte es sich in bescheidenen Verhältnissen. Erst als ich nach Wien kam, sollte ich realisieren, wie bescheiden sie wirklich waren. Meiner (auf ein Mitglied weniger reduzierte) Familie fehlte es an nichts. Der Staat zahlte die Miete für unsere Zwei-Zimmer-Wohnung, ebenso die Krankenversicherung. Monatlich bekamen wir eine Summe, von der sich der Lebensunterhalt finanzieren ließ und von dem sogar die Familie in Bosnien unterstützt werden konnte. Meine Mutter durfte sogar geringfügig arbeiten. Und das obwohl wir offiziell geduldet wurden, denn der Aufenthaltstitel, der alle sechs Monate verlängert wurde, trug den "sympathischen" Namen "Duldung".

Von meiner deutschen Familie, bei der ich anfangs gewohnt hatte, wurde uns weiterhin in jeder Hinsicht geholfen. Wir zahlten es mit "vorbildlicher Integration" (mein Gott, wie ich diesen Begriff hasse!) heim, lernten und aßen Deutsch, besuchten gute Schulen und hatten Freundeskreise, in denen viele Deutsche zu finden waren. Wir waren dankbar. Dankbar für die Gastfreundschaft, für die Wärme die wir spürten, für die Hand die uns gereicht wurde. Für die Menschlichkeit.

Erst im Nachhinein lernte ich zu schätzen, wie großzügig diese Hand war. Als ich die heurigen Bilder aus Traiskirchen und später von Grenzübergängen sah. Diesen Menschen wünsche ich die Möglichkeiten, die ich 1992 hatte. Zuversichtlich bin ich nicht, dass dieser Wunsch in Erfüllung gehen könnte. Der Zug der großen Menschlichkeit dürfte bereits abgefahren sein.

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