"Ein Glücksfall für die Gender Studies"

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Für den Welt-Leichtathletikverband ist sie nicht einfach nur die schnellste Frau über 800 Meter. Olympiasiegerin Caster Semenya stellt die Sportwelt vor ungeahnte Rätsel. Für die Gender Studies ist die 25-Jährige aber ein echter Glücksfall, sagt Elisabeth Klaus.

Caster Semenya ist 25 Jahre alt, 1,78 Meter groß und wiegt 73 Kilo. Und seit Samstag ist sie Olympiasiegerin über 800 Meter der Frauen, 1,24 Sekunden nahm die Südafrikanerin ihrer ersten Verfolgerin ab. Jahresbestzeit, 1,5528 Minuten. Darüber ist sich die Sportwelt einig.

Darüber, ob Caster Semenya eine Frau ist, wird seit 2009 diskutiert. Bei der Leichtathletik-WM in Berlin deklassierte Semenya damals die Konkurrenz, lief die 800 Meter in 1:55,45 Minuten. Eine eigene Kommission, bestehend aus Gynäkologen, Internisten, Endokrinologen, Geschlechter-Experten und Psychologen wurde eingesetzt, um die Frage zu klären. Nach elf Monaten Untersuchung war klar: Semenya darf die Goldmedaille aus Berlin behalten. Die genauen Ergebnisse des Geschlechtertests will die IAAF (International Association of Athletics Federations) aber bis heute nicht veröffentlichen. "Es ist klar, dass sie eine Frau ist, aber vielleicht nicht zu 100 Prozent", sagte Pierre Weiss, der Generalsekretär des IAAF, damals.

"Ein Glücksfall für die Gender Studies"
(L-R) Silver medallist Burundi's Francine Niyonsaba, gold medallist South Africa's Caster Semenya, and bronze medallist Kenya's Margaret Nyairera Wambui pose on the podium for the Women's 800m Final during the athletics event at the Rio 2016 Olympic Games at the Olympic Stadium in Rio de Janeiro on August 20, 2016. / AFP PHOTO / Eric FEFERBERG
2011 wurden schließlich neue Obergrenzen für Testosteron-Werte eingeführt, eine Regelung, die der Sportgerichtshof vergangenes Jahr kippte, weil die IAAF nicht nachweisen konnte, dass das Hormon als Indikator ausreicht, um jemanden als Mann oder Frau zu klassifizieren.

Es ist wohl auch keine Frage, die ein Sportgerichtshof alleine beantworten sollte. Die Frage, (ab) wann ein Mann ein Mann, eine Frau eine Frau ist, ist das Forschungsfeld der Gender Studies. Die Kommunikationswissenschaftlerin Elisabeth Klaus lehrt zu diesem Forschungsschwerpunkt an der Universität Salzburg. Für sie ist der Fall Caster Semenya eine Bestätigung der wichtigsten Theorie der Gender Studies, wonach Geschlecht nicht als festlegbare Kategorie, sondern als Kontinuum zu verstehen ist. Dass ihr Fach damit in der öffentlichen Debatte immer wieder mit Anfeindungen konfrontiert ist, stört sie nicht. Denn wer den vermeintlich natürlichen Unterschied von zwei Geschlechtern infrage stelle, stelle eben auch eine Machtfrage. "Das ist nunmal unbequem."

KURIER: Auf sportlicher Ebene und auch auf juristischer Ebene wurde der Fall Caster Semenya ja breit besprochen. Wurde der Fall auch in den Gender Studies thematisiert?

Elisabeth Klaus: Ja, natürlich. Die Diskussion um Caster Semenya war in gewisser Weise ein Glücksfall für die Gender Studies, weil wir schon sehr lange die Vorstellung haben, dass Geschlecht eine Konstruktion ist, dass wir nicht ein Geschlecht haben, sondern uns als Gesellschaft viel Mühe geben, Geschlechter zu konstruieren, und dass schließlich die Geschlechterbinarität sehr problematisch ist, weil sie größere Gruppen von Menschen einfach ausschließt.

Was genau ist unter Geschlechterbinarität zu verstehen?
Der Begriff beschreibt, dass es nur Mann und Frau, also zwei klar definierte und unterscheidbare Geschlechter gibt. Doch das ist eine Konstruktion, die gesellschaftlich und kulturell über viele Jahrhunderte hinweg entstanden ist.

Der Begriff Gender benennt ja das soziale Geschlecht. Jetzt sind bei Semenya aber vor allem auf biologische Parameter wie Testosteron-Spiegel im Fokus. Wo steht die Forschung in diesem Punkt?
Wir haben in den Gender Studies in den 90er-Jahren einer Veränderung hin von der Frauen- zur Geschlechterforschung vollzogen. Seitdem gilt, dass Biologie und Soziales nicht voneinander unabhängig, sondern stark miteinander verwoben ist. Wenn wir aufgrund biologischer Merkmale feststellen: „Das ist ein Mann!“ oder „Das ist eine Frau!“ – gewinnt diese Feststellung ja vor allem aufgrund ihrer sozialen und kulturellen Bedeutung an Relevanz. Wäre Geschlecht so etwas wie Haarfarbe oder Körpergröße, wäre diese Unterscheidung viel weniger wichtig und folgenreich. Geschlecht hat aber eine sehr viel größere Bedeutung und in diesem Sinne ist das soziale Geschlecht nicht vom biologischen zu trennen. Auch diejenigen, die darauf beharren, dass Männer und Frauen grundsätzlich verschieden sind, argumentieren ja stets mit der Biologie, damit dass es per Natur zwei Geschlechtscharaktere gibt. Die Diskussion innerhalb des Leistungssports zeigt nun sehr deutlich die Problematik dieser Argumentation.

Wie kann im Leistungssport denn dann die Vergleichbarkeit gewahrt bleiben, wenn nicht in eine Aufteilung in die Geschlechterkategorien?
Darauf gibt es keine leichte Antwort. Trotzdem müssen wir fragen, welche Kriterien denn derzeit die Vergleichbarkeit bestimmen. Seitens des IAAF (Anm. Generalsekretär Weiss) wurde die Position vertreten, dass Caster Semenya zwar eine Frau sei, aber vielleicht nicht zu 100 Prozent. Aber was soll denn eine 90-Prozent- oder 60-Prozent-Frau sein? Sind Hundert-Prozent-Frauen diejenigen, die eine hohe Stimme und bestimmte Körpermaße haben? Lässt sich bestimmen, wer eine Hundert-Prozent-Frau und wer ein Hundert-Prozent-Mann ist, ohne dabei auf grobe Typisierungen und überkommene Geschlechterstereotype zurückzugreifen? Ich wüsste nicht, wie das gehen sollte.

"Ein Glücksfall für die Gender Studies"
2016 Rio Olympics - Athletics - Final - Women's 800m Final - Olympic Stadium - Rio de Janeiro, Brazil - 20/08/2016. First placed Caster Semenya (RSA) of South Africa celebrates. REUTERS/Ivan Alvarado FOR EDITORIAL USE ONLY. NOT FOR SALE FOR MARKETING OR ADVERTISING CAMPAIGNS.
Man hat sich mit dem Testosteron-Gehalt im Blut beholfen.
Ja, aber die Geschlechterkategorisierung beinhaltet sehr unterschiedliche Aspekte, der Testosterongehalt ist lediglich einer davon. Weiter gehören dazu Sozialisationsaspekte, psychische, genitale, hormonelle, chromosomale, phänotypische Aspekte und noch viele weitere. Gerade die Versuche von Geschlechtertests im Sport zeigen deutlich, dass Geschlecht keine eindimensionale Kategorie ist. Man kann eben nicht sagen: „Na klar: Eine Frau ist jemand, die eine Vagina oder einen Busen hat.“ Dann kommen die nächsten und sagen: „Nein, eine Frau ist jemand, die zwei X-Chromosomen hat.“ Oder auch: „Naja, eine Frau ist diejenige, deren Testosteron-Level so und so hoch ist.“ Für das Individuum ist letztlich die Frage der eigenen geschlechtlichen Identität zentral. Deshalb definieren Psychologen: „Eine Frau ist diejenige, die davon überzeugt ist, dass sie eine Frau ist.“ Welche von all diesen Definition ist nun die Richtige? Das lässt sich nicht entscheiden, weil das Geschlecht eben eine soziale wie biologische Konstruktion ist – und im Bestreben der Gesellschaft Männer und Frauen zu unterscheiden und zu definieren spielen alle diese Faktoren zusammen.

Das heißt, diese Frage ist noch vor 15, 20 Jahren anders beantwortet worden?
Ja – das ist so und zeigt sich deutlich in der Leichtathletik. Bevor dort die Geschlechtertests eingeführt wurden, wurde die Frage, wie Geschlecht zu bestimmen sei, nicht gestellt, und nachdem diese eingeführt wurden, wurde ihre Beantwortung immer komplexer. Dadurch, dass wir heute auch in der Medizin mehr wissen, hat sich die Bestimmung des Geschlechts nicht vereinfacht, sondern verkompliziert. Oder anders ausgedrückt, es ist zunehmend klarer geworden, dass die Einteilung in zwei und genau zwei Geschlechter der Komplexität des menschlichen Lebens nicht gerecht wird und der Geschlechterdualismus eine Normierung von Menschen beinhaltet, die bis heute zu Ausschlüssen und Diskriminierungen führt. Diese Zweigeschlechtlichkeit ist eine komplexe kulturelle Konstruktion, die aus vielen Aspekten besteht. In wissenschaftlichen Studien zeigt sich, dass sich Merkmale und Verhaltensweisen von Männern und Frauen stets überschneiden. Wir finden keine sozialen oder biologischen Merkmale, wo es nicht solche Überlappungen gäbe. Der Fall Caster Semenya hat dies noch einmal sehr deutlich gezeigt.

Halten Sie die Einteilung in Männer- und Frauensportbewerbe dann für überholt?
Mir sind dazu keine Diskussionen innerhalb der Gender Studies bekannt. Ob etwas „überholt“ ist und verändert wird, wird, gerade auch im Leistungssport, letztlich durch die gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung bestimmt. Sicher wird man nicht von einem Tag auf den anderen alle Männer- und Frauensportbewerbe abschaffen. Aber natürlich darf und muss man jeweils hinterfragen und überprüfen, ob die Geschlechtertrennung einzelner Bewerbe bzw. diese selber noch zeitgemäß sind. Veränderungen etwa olympischer Disziplinen hat es ja stets gegeben, deren Zahl und deren Einteilungen sind ja nicht statisch. Wir kennen Bewerbe, etwa das Dressurreiten, in denen es keine Trennung in Männer und Frauen gibt, und solche, in denen andere Kategorien entscheidend sind, etwa beim Boxen eine Einteilung nach Gewicht oder im Mannschaftssport die Einteilung nach Altersgruppen.

Wäre das heute manchmal diskutierte dritte Geschlecht ein gangbarer Weg?
Ich glaube nicht. Genauso wenig wie davon auszugehen ist, dass zwei Geschlechter überschneidungsfrei definiert werden können, kann man drei Geschlechter bestimmen. Das dritte Geschlecht bliebe eine Restkategorie und damit verbunden wäre sicher die Gefahr der Diskriminierung und Stereotypisierung. Geschlecht ist wohl am besten als ein Kontinuum zu verstehen. Die Frage, wie man innerhalb dieses Kontinuums Einteilungen vornehmen kann, etwa für sportliche Bewerbe, muss man dann diskutieren.

Wieviele Geschlechter es gibt, lässt sich also nicht sagen?
Das ist keine Frage, die die Gender Studies umtreibt. Hier geht es vielmehr darum zu fragen, wofür wir die binäre Geschlechtereinteilung brauchen und wie sie sich auf die Entfaltungsmöglichkeiten von Menschen auswirkt, die unterschiedliche geschlechtliche und sexuelle Identitäten ausbilden und verschiedene Merkmale aufweisen.

Zur Person: Prof. Elisabeth Klaus ...
... lehrt am Fachbereich Kommunikationswissenschaft der Universität Salzburg. Ihr Buch „Kommunikationswissenschaftliche Geschlechterforschung“ gilt als Standardwerk der Gender Media Studies. Dass ihrem Fach in der öffentlichen Debatte oftmals nicht gerade mit Wohlwollen begegnet wird, stört sie nicht. Wer den vermeintlich natürlichen Unterschied von zwei Geschlechtern infrage stelle, stelle auch eine Machtfrage. „Das Hinterfragen der vermeintlichen Selbstverständlichkeit der Geschlechterdifferenz ist eben unbequem“, sagt Klaus. „Aber genau das sollte Wissenschaft leisten, unbequem sein und Selbstverständlichkeiten hinterfragen.“ Es sei dies generell ein Problem aller Wissenschaften, die einen normativen Anspruch vertreten, also Wissen zur Veränderung und Verbesserung der Gesellschaft bereit stellen wollen.

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