Salzburg erste Opernpremiere: Elektrafizierend
Das Schönste vorweg: Es gibt wieder Musiktheater. Nicht aus einer Konserve, aus einem Computer oder einer anderen technischen Gerätschaft, sondern live und wahrhaftig. Bei den ersten Akkorden schon mit dem Agamemnon-Motiv, bei jeder gesungenen Phrase, bei jedem Zwischenspiel registriert der geneigte Besucher und Opernliebhaber (nehmen wir einmal an, dass er mit Gleichgesinnten eine Mehrheit bei dieser Premiere bildete), was in den vergangenen Monaten so schmerzhaft gefehlt hat; welche Bedeutung und welche Kraft Musik gerade in Krisenzeiten hat; dass Oper alles andere ist als ein verstaubtes Retro-Genre, sondern – zeitgemäß realisiert – größte Gültigkeit besitzt.
„Elektra“ von Richard Strauss bei den Salzburger Festspielen: ein Testballon für die gesamte Branche, der künstlerisch abhebt. Durch und durch „elektrafizierend“ (dass vor dem Theater ausgerechnet gegen Starkstromleitungen demonstriert wurde, sei nur nebenbei erwähnt).
Wenige Elefanten
Natürlich war diesmal in Salzburg, bei 33 Grad, aufgrund der Coronakrise und der limitierten Karten weniger los als sonst bei Festspieleröffnungen. Einige kamen trotzdem zum Promischauen, ein Teil trug Masken, ein anderer nicht, sehr viele Elefanten konnte man mit freiem Auge nicht ausmachen.
Der Einlass in die Felsenreitschule klappte zügig, offenbar hatten die Gäste ihre Ausweise für die Kontrolle parat. Im Theater selbst war man zunächst verblüfft, wie viele Besucher trotz der Sicherheitsauflagen mit frei zu bleibenden Plätzen da waren. Das war eine echte Aufführung mit einer Auslastung, von der andere Bühnen sonst träumen können. Gut geschlichtet.
Dann, nach dem nervenaufreibenden Vorspiel, das diesfalls Wochen gedauert hatte, tatsächlich der Beginn, allerdings ungewöhnlich: Regisseur Krzysztof Warlikowski lässt „Elektra“, das erste gemeinsame Bühnenwerk der beiden Festspielgründer Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal, nicht mit Musik, sondern mit einem Monolog der Klytämnestra, in ein Mikro gebrüllt, dann gehaucht, beginnen: ein Schuldbekenntnis, ihren Mann Agamemnon ermordet zu haben. Der wiederum hatte einst die gemeinsame Tochter Iphigenie geopfert – schlechte Voraussetzungen also für ein harmonisches Familienleben und Ursprung für das Rachedrama. Kein Wunder, dass diese (grandiose!) Oper so klingt.
Top-Regie
Warlikowski, immer schon ein ausgewiesener Experte für psychologische Studien, begeistert mit dieser Inszenierung. Er analysiert fabelhaft die Beziehungen der Protagonisten zueinander, zeigt Klytämnestra als verzweifelte Frau, Elektra als wildes Tier mit vielen kindlichen Facetten, Chrysothemis als oberflächliche Modepuppe und Orest als von der Familie zerstörten Neurotiker.
Die Felsenreitschule ist eine Art Badeanstalt mit Becken und Duschen, metallisch, ein Platz fürs Social Distancing – dort wird Elektra abseits von ihrer Familie gehalten. Dazu gibt es den Palast von Mykene als gläsernen Kubus, in dem gemordet wird. Und wenn sich am Ende in Videosequenzen abertausende Fliegen um das Blut sammeln, weiß man, dass die Täter von den Erinnyen verfolgt werden. Eine Top-Regie.
Auch musikalisch ist diese Produktion auf höchstem Niveau. Franz Welser-Möst und die präzise, farbenprächtig und höchst intensiv spielenden Wiener Philharmoniker ertränken diese musikalische Flutwelle nicht in Lautstärke, sondern changieren wunderbar zwischen Dramatik und lyrischen Passagen, zwischen Dissonanzen und Wohlklang, zwischen Moderne und Romantik, zwischen Power und Poesie. Auch orchestral geht es also bei dieser „Elektra“ nicht nur um Rache, sondern um Psychoanalyse und kindliche Traumata.
Die drei Damen im Zentrum der Produktion singen und spielen allesamt exzellent. Ausrine Stundyte bewältigt die Titelpartie sehr gut, sicher in den Höhen, ausdrucksstark in jeder Phase, passend zur Interpretation nicht überdramatisch. Asmik Grigorian als ihre Schwester Chrysothemis besticht mit Unbekümmertheit und stimmlicher Klarheit, Tanja Ariane Baumgartner mit einer tollen Charakterstudie einer verzweifelten Mutter, mit Wortdeutlichkeit und mächtiger stimmlicher Präsenz in allen Lagen. Bassbariton Derek Walton singt den Orest profund und kraftvoll, Michael Laurenz zeichnet den Ägisth als schwache, opportunistische Person, auch die kleineren Partien sind durchwegs gut besetzt.
Oper ist zurück. Allein dafür schon: fünf Sterne.
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