"Und doch war es Auschwitz"

„Die Passagierin“ mit Sara Jakubiak und Brian Mulligan
Die KZ-Überlebende Zofia Posmysz im Interview über die Oper "Die Passagierin", Auschwitz und Musik.
  • Am 19. und 20. Mai wird im Rahmen der Wiener Festwochen die Oper "Die Passagierin" im Theater an der Wien aufgeführt. Sie basiert auf dem autobiografischen Roman der KZ-Überlebenden Zofia Posmysz.
  • Das in den 1960ern entstandene Werk von Mieczysław Weinberg war in der Sowjetunion verboten. Es wurde erst 2010 bei den Bregenzer Festspielen uraufgeführt.
  • Der KURIER hat die in Polen lebende Zofia Posmysz (92) per eMail interviewt. Es geht um Musik, Auschwitz und Erinnerung.

KURIER: Sie haben vor der Uraufführung in Bregenz (2010) gesagt: "Eine Oper kann die Erinnerung an Auschwitz am besten wachhalten."

Zofia Posmysz: Die Uraufführung der Oper in Bregenz hat in meinem Leben einen neuen Abschnitt eingeläutet, hat meinem Leben einen neuen Sinn gegeben. Ich erinnere mich, wie erstaunt ich war, als mich in den Sechzigerjahren ein Gast aus Moskau besuchte: Alexander Medwedew. Er war gekommen, um mich zu fragen, ob ich damit einverstanden wäre, dass auf der Grundlage meines Romans "Die Passagierin" das Libretto für eine Oper gleichen Titels von Mieczysław Weinberg verfasst würde. Meine Verwunderung war groß: Ein Vernichtungslager als Thema einer Oper? Medwedew war dann noch zwei Mal in Polen. Bei dem einen Mal führte ich ihn durch das Lager in Birkenau, bei dem zweiten Mal stellte er mir das schon fertige Libretto vor. Ein drittes Treffen fand in Moskau statt, wohin ich von Weinberg eingeladen worden war.

Wie lief das ab?

Ich entsinne mich an ein langes Gespräch in seiner Wohnung, an seine eindringlichen Fragen zu Einzelheiten des Lagerlebens. Erst später, als ich vom Schicksal seiner Familie (seine Eltern und Schwester kamen im Lager Trawniki um, Anm.) erfuhr, verstand ich diese auf mich damals etwas seltsam wirkende übertriebene Genauigkeit. Die nächsten Informationen aus Moskau waren erfreulich, die Oper war fertig und sollte im Bolschoi-Theater gezeigt werden.

Das ging aber nicht ohne Komplikationen.

Die Nachricht, dass das Kulturministerium die Aufführung verboten hatte, kam wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Leider betraf dieses Verbot auch alle anderen Länder der sogenannten Volksdemokratie. Warum interessierten sich keine Opernhäuser außerhalb dieser Länder für das Werk? Medwedew bemühte sich weiterhin – ohne Erfolg. "Die Passagierin" schien für immer begraben.

Bis Bregenz.

Eine großartige Inszenierung. Ein großartiges Bühnenbild. Der etwa 1600 Zuschauer fassende Saal bis zum letzten Platz gefüllt. Die Sänger, die Musik … alles war viel zu schön, als dass es hätte Auschwitz darstellen können. Und doch war es Auschwitz! "Birkenau, verfluchtes Birkenau, Abgrund der von Gott vergessenen Hölle voller Blut und Tränen", diese Worte eines Lagerliedes rief mir Weinbergs Musik ins Gedächtnis. Benommen saß ich da und hörte den Gesang von Marta, Hannah, Katja, Bronka, Vlasta, Yvette, ich wusste nicht mehr, wo ich mich befand, bis zu dem minutenlangen stehenden Applaus am Schluss. Bregenz. Am Ende meines Lebens ein Ereignis von so großer Bedeutung. Ich verdanke es der Musik Weinbergs. Ja, sie wird die Erinnerung an die Stätten der Vernichtung wachhalten, an jene Orte, wo Menschen andere Menschen mit Gas umbrachten – wie Ungeziefer.

Hier in Österreich wird davor gewarnt, dass die schrecklichen Ereignisse aus dem Bewusstsein der jüngeren Generation zu verschwinden drohen.

Ich denke, dass die Situation in Polen in dieser Hinsicht weniger beunruhigend ist. Das Wissen über die schreckliche Vergangenheit wird weitergegeben – in Schulen, in Museen, an vielen Orten der Erinnerung wie z. B. dem Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau, den Gedenkstätten Majdanek, Stutthof, Treblinka, Sobibór, Bełżec, um nur die bekanntesten zu nennen. In Oświęcim – das ist der polnische Name für Auschwitz – leisten außer dem Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau das Zentrum für Dialog und Gebet, das Jüdische Zentrum sowie die Internationale Jugendbegegnungsstätte wichtige Bildungsarbeit.

Sind Sie da selber involviert?

Mit der Internationalen Jugendbegegnungsstätte kooperiere ich seit etlichen Jahren. Dorthin kommen Gruppen aus Polen, aber auch aus dem Ausland, die meisten davon aus Deutschland. Das erste Treffen mit einer Jugendgruppe aus Deutschland, das vor vielen Jahren stattgefunden hat, ist mir in Erinnerung geblieben. Nach einem zweistündigen Gespräch mit der Gruppe in der Internationalen Jugendbegegnungsstätte wurde ich von den Jugendlichen gefragt, ob ich ihnen den Krankenblock zeigen könne, in dem ich wochenlang mit Fleckfieber gelegen hatte. Wir fuhren nach Birkenau. Block 27 war zugänglich für Besucher. Ich musste nichts sagen, es wurde keine einzige Frage gestellt. Die Jugendlichen gingen den Gang zwischen den Holzpritschen entlang, in ihren Gesichtern zeigte sich Betroffenheit, Unglaube, Entsetzen. Bevor wir den Block verließen, meldete sich schließlich eines der Mädchen zu Wort und bat mich, ihr "meine" Pritsche zu zeigen. Das tat ich.

Wie war die Reaktion?

Meine Pritsche war ganz oben, direkt unter einem Fenster, durch das nun der Schein der untergehenden Sonne fiel. Vielleicht veranlasste mich das zu einer Bemerkung, die – wie ich zugeben muss – nicht besonders klug war. "Komfortabel diese Pritsche, nicht wahr?" Ein befremdliches Schweigen war die Antwort, aber bevor ich meinen Gedanken weiter ausführen konnte, hörte ich eine mit erhobener Stimme geäußerte Frage: "Komfortabel? Wieso?" Ich begriff, dass das hübsche Mädchen, das die Frage gestellt hatte, mich verdächtigte, sie nicht ernst zu nehmen. So ruhig wie möglich begann ich zu erklären: "Über dieser Pritsche befindet sich, wie ihr seht, ein Fenster. Im Winter war dessen Scheibe mit einer dicken Raureifschicht bedeckt. Das war meine Rettung. Ich habe den Raureif von der Scheibe abgekratzt und in den Mund gesteckt, um wenigstens ein bisschen den Durst zu stillen. Der Becher Flüssigkeit, den wir pro Tag bekamen, war bei vierzig Grad Fieber viel zu wenig. Und noch aus einem anderen Grund war die Pritsche wirklich komfortabel. Wir lagen zu sechst darauf, alle hatten hohes Fieber, zwei hatten Durchfall, bei einer Krankheit wie Fleckfieber kann das tödlich sein. Es gab keine Bettpfannen und die Schüsseln, die wir stattdessen benutzten, waren schnell voll und liefen über, unsere Exkremente sickerten durch die Spalten zwischen den Brettern auf die unteren Pritschen …" Ich verstummte, als ich sah, dass das Mädchen weinte. Schluchzend flüsterte sie: "Ich bitte um Entschuldigung." In dem Moment wurde mir klar: Ich bin nicht zum letzten Mal hier. Und so ist es dann auch gekommen.

Ist das für Sie eine Belastung?

Wenn mich manchmal Müdigkeit überfällt und mich der Gedanke ergreift, dass Auschwitz mein Leben bis zum Ende bestimmen wird, dann rufe ich mir die Worte unseres großen Dichters Zbigniew Herbert aus "Herrn Cogitos Vermächtnis" in Erinnerung: "Du bist mit dem Leben davongekommen, nicht um zu leben. Du hast wenig Zeit, du musst Zeugnis ablegen."

Aus dem Polnischen übersetzt von Sabine Leitner.

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