Die Engel helfen nicht, aber sie nerven

Olga Martynova 2012 als Siegerin in Klagenfurt
"Der Engelherd" von Bachmann-Preisträgerin Olga Martynova

Marie ist eine erwachsene Frau und geistig behindert. Sie zeichnet geschlossene Räume, runde, rechteckige, und während sie zeichnet, hört sie Schreie.

Jemand ruft um Hilfe.

Das könnte ein Engel sein, den Marie irrtümlich eingesperrt hat.

Schnell zeichnet sie Fenster, damit Engel die Seiten ihres Zeichenblocks jederzeit verlassen können.

In der Falle

Viele Engel kommen bei Olga Martynova vor. Sie werden von der aus Sibirien stammenden, in Frankfurt lebenden Bachmann-Preisträgerin von 2012 als Überbringer eingesetzt.

Sie bringen die gewaltsame Vergangenheit zurück, und zwar so, dass niemand sagen kann, er habe schon 100 Mal darüber gelesen: über die "Rassenhygiene", über den Mord an behinderten Kindern. Das Wort "Euthanasie" kommt nicht vor.

Martynova schreckt mit ihren Engeln aber auch ab.

Nicht jeder hält aus, dass sie im Roman überall "sitzen" und gewissermaßen die Partie aufhalten.

Sie versuchen, uns Menschen zu verstehen, aber das schaffen nicht einmal sie.

"Der Engelherd" ist ihr Käfig. Die ganze Welt ist ihr Gefängnis. Von Gefühlen lassen sie sich fangen. Gefühle sind für Engel wie Regenwürmer für Vögel. Damit kriegt man sie; und sperrt sie in Silberspiegelglas. Aber sie können uns trotzdem nicht helfen.

Märchenhaft. Und die Handlung? Manchmal handelt Maries Vater. Er geht seiner behinderten Tochter aus dem Weg. Er ist ein berühmter Schriftsteller, das merkt man schon daran, dass Frauen bei ihm "im Dunstregen verschwommene Landschaften" sind.

Es geht um seine Liebe, um Verantwortung, Schuld, um alles, vor allem aber geht es um Martynovas Dichtung und originellen Gedanken, die sie mit uns teilen will.

Z.B. denkt sie an die Dinge, die noch beseelt sind, wenn man gerade erst gestorben ist. Die fast noch atmen, wie vielleicht der Schreibtisch, der Plattenspieler usw.

Aber dann, wenn die Besitzer wechseln, verkommen sie zu ... "Idioten im Volk der Dinge".

Olga Martynova:
„Der Engelherd
Verlag S. Fischer. 368 Seiten. 23,70 Euro.

KURIER-Wertung: *** und ein halber Stern

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