Der Komponist, ein Steckschachbrett und drei Gewuzelte

Der Komponist, ein Steckschachbrett und drei Gewuzelte
Camillo Gamnitzer ist Großmeister einer Kunstform, die vielen als solche nicht bekannt ist.

Es ist ein wolkenverhangener Samstagvormittag. Camillo Gamnitzer sitzt in seiner Wohnung nahe des Linzer Froschbergs auf einer dunkelroten Ledercouch. Aus den Boxen, die neben einem alten Schallplattenspieler auf einer Kommode stehen, tönt Orchestermusik. "Das ist Jean Sibelius' Sinfonie Nr. 5 in Es-Dur", sagt der 64-Jährige. "Ein großartiger Komponist, der wohl Beste seiner Zeit."

Der Mann mit graumeliertem Haar blickt nach unten. Zwischen seinen Fingern hat er Wuzeltabak, den er mit gleichmäßigem Druck zu einer Zigarette formt. "Wissen Sie, warum ich ihn so großartig finde?", fragt er, steckt sich die gewuzelte Tschick in den Mund und greift nach dem Feuerzeug. "Sibelius hat seine achte Sinfonie vernichtet, obwohl sie fertig war. Das ist schon sehr inspirierend."

Für einen kurzen Moment ist es still. Gamnitzer schnipst das Feuerzeug an, die blaue Flamme entzündet das Papier, eine rote Gluthaube bildet sich. Er macht einen tiefen Zug und bläst den weißgrauen Qualm gegen ein abgenutztes Steckschachbrett, 16 mal 16 Zentimeter groß. "Ich komponiere nur mit diesem Brett, weil die Wege kürzer sind und die Figuren nicht umfallen können. Sie stecken fest."

Der Komponist, ein Steckschachbrett und drei Gewuzelte

Die Kunst der Schachfiguren

Gamnitzer komponiert, aber für seine Meisterwerke benötigt er weder ein Notenblatt noch Töne. Der 64-Jährige ist nämlich Schachkomponist - genauer gesagt: der Schachkomponist Österreichs. Seit seinem 19. Lebensjahr erschafft er Schachprobleme (Schachaufgaben). Dabei handelt es sich um eine selbstständige Variation des normalen Partieschachs, die wegen des ästhetischen Gehalts auch unter dem Begriff "Kunstschach" bekannt ist. Bereits im 6. und 7. Jahrhundert nach Christi waren Schachfiguren und –regeln Basis eines eigenen Kunstzweigs. Von den Arabern nach Europa gebracht, sei dieser nicht nur ästhetisch, sondern auch umfassend fortentwickelt worden, erklärt Gamnitzer.

Damals wie auch heute ersinnt der Komponist beim Kunstschach Positionen und Lösungswege, die im Partieschach für gewöhnlich nicht vorkommen. Der Löser sei dann eingeladen, den komponierten Weg zum Matt oder zum sonstigen Ziel aus der jeweils vorgegebenen Stellung selbsttätig zu erspielen, sagt der Oberösterreicher. Im klassischen Schachproblem ist die Forderung immer auch an eine fixe Zuganzahl geknüpft, beispielsweise "Weiß zieht und setzt in drei Zügen Matt".

Veröffentlicht werden Schachkompositionen auf den Urdruckseiten internationaler Magazine wie idee & form oder Die Schwalbe. Erst hinterher finden sie ihren Weg in die Schachspalten von Tages- bzw. Wochenzeitungen oder ins Internet. Auf einer eigenen Website für oberösterreichische Schachkompositionen können sowohl Gamnitzers Aufgaben als auch die seiner Kunstschachkollegen Gerald Sladek, Werner Schmoll und Alois Nichtawitz gelöst und kommentiert werden. "Aus einer anderen [Gedanken]-Welt", "Ein weiteres Wunderwerk aus Linz!" oder "A 'Gamnitzer'. No need to say more..." schreiben Preisrichter, Kenner und Liebhaber zu den Stücken des 64-Jährigen.

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Lukrativ sei Kunstschach aber nicht, bemerkt Gamnitzer, der als Vertragsbediensteter in der Direktion Kultur der oberösterreichischen Landesregierung journalistisch tätig ist. Veröffentlichungen in Tageszeitungen oder Zeitschriften würden finanziell nichts einbringen. Bei größeren nationalen und internationalen Kompositions-Spezialbewerben winken hin und wieder Geld- oder Sachpreise. "Natürlich gibt es weltweit Freunde des Kunstschachs, häufig Künstler, Musiker und Wissenschaftler. Verglichen mit anderen Kunstformen ist die Popularität heute aber marginaler denn je", erklärt er und fügt hinzu: "Leider, sonst wäre ich vermutlich schon Millionär."

Musik und Kunstschach

In seinem Wohnzimmer reihen sich Schallplatten von Bach, Beethoven, Sibelius, Bruckner bis hin zu Mahler oder Bartok nebeneinander. Klassische Musik habe ein Nahverhältnis zum Kunstschach, sagt er, "Kontrapunkt, Harmonie- und Formenlehre sind entscheidend für eine gelungene Komposition". Schachprobleme würden wie musikalische Meisterstücke "durch Eleganz, Gedankentiefe und originelle Wendungen" bezaubern. Am wichtigsten sei aber das Moment der Überraschung, das Unerwartete. Der Rest sei Handwerk, Ästhetik und Formgefühl.

Für Schachkunst-Laien mögen die Abbildungen kleine Rätsel sein, denen man gelegentlich, sofern Lust und Zeit vorhanden, ein wenig Aufmerksamkeit schenkt; für Kenner und Liebhaber sei Kunstschach allerdings eine Kunstform, die unendlich mehr zu bieten habe, sagt Gamnitzer.

Deshalb benötige ein qualitativ hochwertiges Werk auch Zeit. "Schritt für Schritt", erklärt er. Bevor er sich vor das Schachbrett setzen kann, braucht er eine Idee. Oft sei es nur eine vage Ahnung, "wenn ich spüre, da kommt etwas, dann geht’s los". Manchmal sitze er stundenlang an einer einzigen Aufgabe - auch Tage und Wochen könnten dabei vergehen.

"Aber irgendwann, zack bum", versucht er zu erklären. "Dann geht's sehr schnell." Manchmal komme es ihm so vor, als würden sich die Figuren von selbst aufstellen. "Das ist unglaublich. Eigentlich Krieg im künstlerischen Sinn."

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Nicht allen gefällt dieser Vergleich zwischen Krieg und Schach, seiner Freundin zum Beispiel. "Sie mag es nicht, wenn ich Kunstschach so bezeichne. 'Es gibt schon zu viel Krieg auf der Welt' sagt sie. Ich will aber nichts beschönigen. Es ist ein beinharter Kampf", erklärt Gamnitzer versunken in seiner dunkelroten Couch, seine zweite Gewuzelte eingeklemmt zwischen linkem Zeige- und Mittelfinger.

Ein Ausnahmetalent auf Abwegen

Der Weg zum Schach beginnt für den Oberösterreicher in einem Ferienhotel am Attersee. Er ist gerade mal sechs Jahre alt, als ihm seine Mutter die ersten Züge beibringt. Sofort habe er eine gewisse Liebe zum Spiel entdeckte, sagt er. Während seiner Zeit am Akademischen Gymnasium auf der Spittelwiese in Linz, fängt er beim Schachklub Vöest an. Dieser gehört zum 1964 gegründeten Werkssportsverein SK Vöest des Stahlerzeugers voestalpine. Gamnitzer gilt als vielversprechendes Talent; als jemand, der eine erfolgreiche Turnierkarriere vor sich hat.

Anfang der Siebzigerjahre wendet sich der damals 19-Jährige der Schachkomposition zu. Es sei eine Mattaufgabe des oberösterreichischen Autors Sladek gewesen, die ihm den Zugang zur Komposition eröffnete, erinnert er sich. Danach sei ihm das normale Schach, wie es gespielt wird, oberflächlich vorgekommen.

"Nicht, dass Schach an sich oberflächlich wäre, aber...", Gamnitzer stoppt. Er greift nach einem weißen Bauern, der in der Schachbrettlade neben all den anderen Holz- und Plastikfiguren liegt. "…die Schönheit, die Schach mit sich bringt, zerbricht in der Partie zumeist am Willen des Gegners."

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2010 wird der 64-Jährige als erster Österreicher mit dem Titel "Großmeister der Schachkomposition" der Fédération Internationale des Échecs (FIDE) ausgezeichnet. "Eine natürliche Bestätigung einer Entwicklung", sagt er und verweist auf die formale Anforderung. Um den höchsten Titel im Kunstschach zu bekommen, müssen 70 Schachprobleme des Komponisten in den FIDE-Alben publiziert werden. "Es werden nur die besten Schachkompositionen abgedruckt, das sind sehr hochqualitative Werke."

Gamnitzer hatte die Kriterien bis 2009 erfüllt, festgestellt wurde das durch ein Versehen jedoch erst nach dem 52. Weltkongress der Schachkomposition in Rio de Janeiro, bei dem der Titel zu vergeben gewesen wäre. Die Mitglieder der World Federation for Chess Composition, eine Unterorganisation der FIDE, bestätigten den Oberösterreicher daraufhin formell als Großmeister, den Titel bekam er mit einjähriger Verspätung 2010.

Selbstmatt: "Gewinne, indem du verlierst"

Von den mehr als tausend Kompositionen, die Gamnitzer mittlerweile erstellt hat, gehört der Großteil dem Selbstmatt an, einem speziellen Genre im Kunstschach - "für Eingeschworene die Königsdisziplin", sagt er. Beim Komponieren und Lösen dieser Aufgaben gelten zwar die normalen Schachregeln, aber die Zielsetzung ist eine andere: Der Suizid. Weiß zwingt den Gegner zum Mattsetzen von Weiß, auch wenn Schwarz das paradoxerweise um jeden Preis verhindern will.

Selbst der ruhige Schachkomponist wirkt mit einem Mal aufgeregt, wenn er über den "Suizidwunsch" von Weiß spricht. Beim Selbstmatt bekomme man es mit dem gefährlichsten Gegner überhaupt zu tun, sagt der Suizid-Schachkünstler. "Schwarz hat Narrenfreiheit. Er kann Figuren opfern, dumme Züge machen, sich Matt setzen lassen. Schwarz muss zum Siegen gezwungen werden, dann erst ist das Selbstmatt vollkommen."

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Im spirituellen oder philosophischen Sinne, sagt Gamnitzer, sei dieses Genre nebenbei ja eine sehr gute Übung für das eigene Leben. "Mir ist der Begriff durchaus sympathisch. Man stelle die eigene Person ruhig ein wenig in den Hintergrund. Sibelius dachte womöglich auch so, als er seine Sinfonie zerstörte. Gewinne, indem du etwas verlierst", erklärt Gamnitzer, den manche Kritiker für den zurzeit bedeutendsten Selbstmattschöpfer halten.

Die Geistlosigkeit des Computers

Im Normalfall darf es bei Schachkompositionen nur einen Lösungsweg geben. Bedeutet: Jemand, der die Aufgabe lösen möchte, soll es exakt so machen, wie es vom Komponisten beabsichtigt ist. Das ökonomische Prinzip sei ein Qualitätsmerkmal im Kunstschach, sagt Gamnitzer. "Nebenlösungen sind das Schreckgespenst eines jeden Komponisten. Sie entwerten das Kunstwerk vollkommen", betont er.

Um sicher zu gehen, dass sich keine Zweitlösung eingeschlichen hat, überprüft er seine fertigen Kompositionen mit einer dafür extra entwickelten Software. Das Programm berechnet Positionen und Züge der Schachfiguren. "Für gewöhnlich kommt zuerst der Schock. Es kann ja immer etwas danebengehen. Aber im Schnitt überleben geschätzte 95 Prozent meiner Schachstellungen den Check."

Die heutige Allgegenwart der Technik im Kunstschach sieht Gamnitzer nicht nur positiv. "Früher hatte der Löser einen Anreiz mehr, sich mit dem Metier zu befassen, nämlich die lockende Aussicht, ein Werk zertrümmern zu können. Es bestand immer die quasi sportliche Hoffnung, die Schachaufgabe schneller oder anders zu lösen als vom Autor geplant", erklärt der 64-Jährige im Gespräch. Das sei heute kaum noch möglich. Nahezu alle Aufgaben seien rechnerisch überprüft. "Die sind clean. Da fährt die Eisenbahn drüber."

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Außerdem gebe es auch einen boomenden Missbrauch des Rechners bzw. der Prüfprogramme durch Möchtegern-Komponisten. "Der PC wird mit irgendwelchen Stellungen gefüttert und aus dem Output wird dann irgendetwas zusammengebastelt", beklagt der Oberösterreicher. Das Ergebnis sei eine internationale Schwemme geist- und seelenloser Zufallsprodukte, denen die Abkunft aus der Retorte durchwegs anzumerken sei.

Der 64-Jährige greift nach seiner dritten Zigarette, die er zuvor am Aschenbecherrand abgelegt hat. Genüsslich macht er seinen letzten Zug und bläst eine weißgraue Rauchschwade gegen das 16 mal 16 kleine Steckschachbrett.

Neben dem Nahschach, das als Wettkampf zwischen zwei Spielern gesehen wird, gibt es noch die Schachkomposition (auch Problemschach oder Kunstschach genannt), die sich auf die ästhetisch-künstlerische Seite konzentriert.

Vielen dürfte Kunstschach als Rätsel – in Form eines Diagramms mit einer Forderung ("Matt in drei Zügen") – bekannt sein. Der Komponist (Autor) erschafft diese Stellung, die entweder den Regeln des Partieschachs folgen (orthodox) oder eben nicht (heterodox).

Beim Selbstmatt gelten dieselben Regeln wie beim Nahschach, aber es kommt noch eine Bedingung dazu: Weiß erzwingt das Matt von Weiß.


Werkbeispiele von Camillo Gamnitzer

Nach der Matura am Akademischen Gymnasium Linz und Studienjahren in Wien ergriff Camillo Gamnitzer 1976 die journalistische Laufbahn. Seit 1988 betreut er im öffentlichen Dienst (Direktion Kultur der oberösterreichischen Landesregierung) unter anderem die Herausgabe von Publikationen und übernahm 2003 die Schriftleitung des Periodikums Oberösterreichische Heimatblätter.

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