Nordwind

Die liberale, weltoffene, muntere Metropole Kopenhagen wird immer wieder zur Stadt mit der höchsten Lebensqualität gekürtKopenhagen
Das ist Kopenhagen: dänisches Chaos und gemütliche Gelassenheit. Radwege wie Laufstege und Mut zur Veränderung. Frühstück bei Andy Warhol und Dinner in der größten Kommune der Welt.

Lotta und Christian verstehen zu leben. Längst haben sie ihre Buchhandlung im Strøget, in Europas ältester Fußgängerzone, verkauft. Sie haben’s gern hyggelig, gemütlich. Zwei-, dreimal pro Woche fahren sie am frühen Morgen 35 Kilometer hinaus aus Kopenhagen. In ihrem kanariengelben Saab Sonett III aus den frühen 1970er-Jahren. Um mit David Hockney, Robert Rauschenberg und Andy Warhol zu frühstücken. Im Louisiana Museum of Modern Art. Hier, direkt am Meer, verbinden sich Architektur, Kunst und Landschaft zu einem sinnlichen Gesamtkunstwerk. Das Motto des Museums empfängt den Gast bereits am Eingang: The world is yours. Im offenen Kamin der Cafeteria prasselt das Feuer, daneben Alberto Giacomettis spindeldürre Gestalten, ständig wie zum Sprung bereit, draußen im Garten bläst der Nordwind, Henry Moores mächtige Bronzestatuen und Jean Tinguelys Installation Skizze des Weltuntergangs ruhen ruhig und gelassen im Rasen des Skulpturengartens. Eine fröhlich lachende Kindergruppe wird von einer Kuratorin behutsam an moderne Kunst herangeführt. Lotta und Christian genießen bei sort kaffe, Espresso, und wienerbröd, Plundergebäck, ihr Ritual des morgendlichen Kulturausfluges.

Vor 60 Jahren wurde das Louisiana Museum von einem kunstbesessenen Industriellen im weit ausufernden Park direkt am Ufer des Öresunds gegründet. Wer Kopenhagen besucht, sollte dieses Museum mit mehr als 3.000 Kunstwerken nicht versäumen – weltweit eine der schönsten, spektakulärsten Sammlungen der Moderne. Mit der S-Bahn ist man nach einer knappen halben Stunde in einer Welt angelangt, in der man dänische Gelassenheit spürt, man taucht in einen Kosmos ein, der ruhiger atmen lässt.

Obwohl die liberale, weltoffene, muntere Metropole immer wieder zur Stadt mit der höchsten Lebensqualität gekürt wird, als die gemütlichste Hafenstadt Europas gilt und es hier mehr Fahrräder als Einwohner gibt, ist auch in Kopenhagen längst Hektik und Unsicherheit allgegenwärtig. Die Alu-Leihräder sind so konzipiert, dass keiner der Einzelteile mit einem anderen Rad kompatibel ist, daher ist jedes Rad diebstahlsicher. Die Stadt der Räder, in der man bei Schneefall zuerst die Radwege räumt, hat sich ein hohes Ziel gesetzt: Bis 2025 will Kopenhagen komplett CO²-neutral werden. Bereits heute fährt fast jeder Zweite mit dem Rad zur Arbeit, Schule oder Universität. Mehr als 1,2 Millionen Kilometer legen so tagtäglich alle Kopenhagener zusammen auf breiten Radwegen, die wie Laufstege wirken, auf dem Fahrrad zurück. Allerdings oft auch selbstherrlich, rücksichtslos. Wer in Kopenhagen nicht mit dem Rad unterwegs ist, gilt als sonderbar.

Vielleicht sollte man diese Stadt erst in ein, zwei Jahren besuchen: Momentan herrscht im Zentrum ein Baustellen-Chaos, der Bahnhof Nørreport wird total umgebaut und die Metro erhält einen neuen City-Ring. Gigantische Bagger und Kräne, Sand- und Kiesberge, Tunnel und Schächte dominieren in der Innenstadt. Touristen müssen sich, zwischen der Radfahrer-Regentschaft, durch enge von Bauzäunen eingegrenzte Wege zwängen.

Doch kaum eine andere Metropole Europas bietet eine derartige Vielfalt. Prachtvolle königliche Residenzen und Avantgarde-Design im früheren Rotlichtviertel Pisserenden, maritime Nostalgie und atemberaubende Architektur, Shopping der Superlative in einer 1,8 Kilometer langen Fußgängerzone und Christiania – die größte Kommune der Welt.

Und die wohl beliebteste Touristenattraktion, die kleine Meerjungfrau. Seit 102 Jahren blickt die nur 1,25 Meter große Bronzenixe, die – wenn man Märchenerzähler Hans Christian Andersen glaubt – sich in einen Prinzen verliebte und Mensch werden wollte, um ihrem Geliebten nahe sein zu können, aufs Meer hinaus. Immer wieder wurde die Meerjungfrau Ziel von Attentaten: Sie wurde geköpft, gesprengt und verunstaltet. An einem Sommermorgen des Jahres 1961 war Kopenhagen schockiert. Die nackte Bronzebüste trug einen BH, ihren Hintern verhüllte ein aufgemalter Schlüpfer. Und drei Jahre später verlor die Kleine zum ersten Mal ihren Kopf. Das Bronzehaupt musste neu modelliert werden. Erst 30 Jahre später bekannte sich der Aktionskünstler Jørgen Nash zur Entführung des Nixen-Kopfes – in seiner Biografie Ein Meerjungfrauen-Mörder kreuzte seinen Weg

Kopenhagen war schon immer ein Zentrum von Avantgarde-Künstlern und Utopisten, Exzentrikern und Esoterikern. Vor mehr als vier Jahrzehnten wurde die Freistadt Christiania gegründet. Mitten in der Stadt, mit einer ungewöhnlichen Flagge – drei gelbe Punkte auf rotem Grund. Die Zäune rund um eine ehemalige Granatenfabrik wurden niedergetreten, um einen riesigen Kinder-Spielplatz zu schaffen. Schon wenig später kamen innovative Freigeister, Arbeitslose und Punks, Hippies und Künstler, um auf dem Gelände ihre eigene Spielwiese zu errichten.

Jetzt wurden die ehemaligen Aussteiger zu Aktionären: Sie haben der dänischen Regierung ihre autonome Kommune für rund zehn Millionen Euro abgekauft. Zuvor gab es jahrelang Razzien, Räumungen und Straßenschlachten. Und plötzlich ist die gewinnbringende Touristenattraktion mit mehr als einer Million Besucher pro Jahr attraktiv wie nie zuvor.

Ein Zeichen dafür: Bald will ein Kochstar im autonomen Stadtteil Christiania ein neues Lokal eröffnen. Vier Mal wurde sein Noma zum besten Restaurant, er selbst immer wieder zum besten Koch der Welt gekürt. Jetzt hat René Redzepi genug von Mega-Stress und Michelin-Sternen, von der überhitzten Gourmet-Szene. Bis nächsten Mai gastiert er in Sydney, Silvester 2016 wird das allerletzte, exquisite Noma-Menü serviert. Ab 2017 gibt es das Manifest der neuen, nordischen Küche in Christiania – der größten Kommune der Welt. Das neue, wesentlich schlichtere Restaurant wird Teil einer urbanen Farm sein, mit eigenen Feldern, einem Gewächshaus auf dem Dach und einem Bauern als bodenständigem Sous-Chef.

Mut zur Veränderung und gemütliche Gelassenheit sind in Kopenhagen kein Widerspruch.


ESSEN
Noma Der Name kommt von „nordisk mad“ – nordische Kost – und klingt bescheiden und einfach. Davon ist das „Noma“ allerdings Welten entfernt. Vier Mal zum weltbesten Restaurant gekürt, ist dieser kulinarische Hotspot Kopenhagens ständig in Bewegung und erfindet sich laufend neu. Bis Mai 2016 kochen Maître René Redzepi und sein Team in Sydney, ab 2017 versucht man in der Freistadt „Christiania“ mit völlig neuem Konzept Gourmets einzukochen. www.noma.dk


Ida Davidsen Legendärer Mittagsklassiker in Kopenhagen ist das Smørrebrød, dänische belegte Brote, das der Weinhändler Oskar Davidsen 1888 erfand. Urenkelin Ida und ihr Sohn Oscar bieten in ihrem RestaurantIda Davidsen“ eine Auswahl von 178 Variationen. www.idadavidsen.dk


Peder Oxe Das direkt am malerischen Gråbrödretorv, dem schönsten Platz der Stadt, gelegene „Peder Oxe“ hat sich auf traditionelle dänische Küche spezialisiert. Hier kann man sämtliche Facetten der einheimischen Kochkunst kennenlernen. Allen voran der Oxe-Burger und das Oxe-Steak. www.pederoxe.dk


Geist „Hyggelig“ – gemütlich – und gleichzeitig cool und stylish, so lässt sich das „Geist“ äußerlich beschreiben. Inhaltlich und kulinarisch folgt man dem Motto: einfach, aber sehr gut. Kein Schnickschnack, sondern klare, kreative Kompositionen, die einem – wie übrigens alles in Kopenhagen – einiges Wert sein müssen. www.restaurantgeist.dk


Bror In diesem Bistro wird die Schwärmerei von ursprünglicher Küche provokativ umgesetzt.
So wird dem Gast, beim Snack „Cod cheek“ ein Holzbrett mit einem halben Dorschkopf serviert, aus dem er sich selbst das köstliche Backenfleisch schabt … www.restaurantbror.dk


SCHLAFEN
Hotel D’Angleterre Es gehört zu den legendärsten Grand Hotels der Welt, das „D’Angleterre“. 2013 zum Fümf-Sterne-Palast saniert, kann man hier in einem der 123 Zimmer oder gar in der „Karen-Blixen- Suite“ schlafen und träumen, und an der ersten Champagner-Bar im Königreich 160 verschiedene Tropfen verkosten. www.dangleterre.com

71 Nyhavn Romantik pur verströmt das traditions- reiche Hotel „71 Nyhavn“. Das Gebäude wurde 1803 als Speicher für Gewürze errichtet, heute wird das Vier- Sterne- Hotel wegen seines gediegenen Ambientes geschätzt. www.71nyhavnhotel.com


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