Stürze: Öffis zur Haftung verurteilt

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Der Fahrgast muss sich anhalten, aber er braucht nicht mit einem plötzlichen Ruck zu rechnen.

Die öffentlichen Verkehrsbetriebe machen es sich gerne leicht, wie zwei ähnlich gelagerte Unglücksfälle in Wien und Innsbruck zeigen. Wenn ein Fahrgast stürzt, berufen sie sich auf die Allgemeinen Beförderungsbedingungen. Darin steht, dass sich die Passagiere einen „festen Halt“ verschaffen müssen.

So einfach ist das aber nicht, wie Oberlandesgericht (OLG) Wien und Oberster Gerichtshof (OGH) den Öffi-Betreibern beschieden.

Die 79-jährige Wienerin Elisabeth S. ließ ihr Ticket vom Automaten entwerten. Mit der linken Hand hielt sie sich dabei an einer Griffstange fest. In dem Moment fuhr der Tramwayfahrer mit der maximal möglichen Beschleunigung von 1,3 m/sec2 los. Der Ruck ist für einen Fahrgast, der sich in Längsrichtung abstützt, zu bewältigen. Wenn man aber quer steht, wie die rüstige alte Dame, hat man Schwierigkeiten, das Gleichgewicht zu halten. Elisabeth S. stürzte und verletzte sich schwer.

Die Wiener Linien weigerten sich, Schmerzensgeld zu leisten. Das Anfahren der Straßenbahn mit maximal möglicher Beschleunigung sei zulässig, die Frau hätte sich einen festen Halt verschaffen müssen.

Vom OLG kam ein kräftiges „Ja, aber.“ Im Urteil (zitiert in der ZVR, Manz), das den Wiener Linien die Haftung auferlegt, steht: Das Anfahren mit höchster Beschleunigung in einer Haltestelle, wo Fahrgäste typischerweise mit der Entwertung von Fahrscheinen befasst sind, ist – ohne verkehrsbedingte Notwendigkeit – ein Verstoß gegen die Sorgfalt. Das trifft den Triebwagenführer. Was die Sorgfalt der gestürzten Frau in eigenen Angelegenheiten betrifft, führte das Gericht den Konflikt des Fahrgastes vor Augen: Er muss sich fest anhalten, er muss aber auch unverzüglich seinen Fahrausweis entwerten. Im Einzelfall – z. B. vor einer Kurvenfahrt – kann es geboten sein, sich mit dem ganzen Körper Halt zu verschaffen. In diesem Fall musste Frau S. aber nicht mit so einem Anfahrtsruck rechnen und brauchte auch nicht mit dem Entwerten des Tickets abzuwarten.

In einem Innsbrucker Linienbus erhob sich eine Frau von ihrem Sitzplatz am Gang, um eine andere Frau von deren Fensterplatz aufstehen und durchschlüpfen zu lassen. Eine alltägliche Situation. Die Frau mit dem Gangplatz stürzte, weil der Busfahrer plötzlich abbremste.

Zweite Verurteilung

Die Innsbrucker Verkehrsbetriebe argumentierten, die Frau hätte nur ihre Beine zur Seite klappen brauchen, um die andere Frau vorbei zu lassen. Doch sie wurden verurteilt, die Haftung zu übernehmen. Der OGH beurteilt es als unzumutbar, sitzen zu bleiben und den Sitznachbarn „vorbeizwängen“ zu lassen. Man müsse in Öffis schon auch einmal gefahrlos aufstehen dürfen.

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