Geistig abnorme Täter: Das "zumutbare Restrisiko"

Geistig abnorme Täter: Das "zumutbare Restrisiko"
Experten plädieren nur noch bei schweren Verbrechen für Einweisung.

Die lebensgefährliche Vernachlässigung eines 74-jährigen Häftlings in der Justizanstalt Stein im Frühjahr 2014 hat Missstände im Maßnahmenvollzug aufgedeckt: Immer mehr geistig abnorme Rechtsbrecher sitzen immer länger in geschlossenen Anstalten. Sie werden von nicht dafür geschulten Justizwachebeamten verwahrt statt therapiert. Die von Justizminister Wolfgang Brandstetter eingesetzte Expertenkommission aus Kriminologen, Gefängnischefs, Kriminalsoziologen und Psychiatern hat nun einen 80-seitigen Reformbericht vorgelegt. Und der hat es in sich.

Betreut statt bewacht

Die Insider gehen davon aus, dass von fünf Eingewiesenen nur bei einem tatsächlich die Voraussetzungen dafür vorliegen, während die vier anderen fehl am Platz sind. Die ohne Strafe zur Einweisung verurteilten unzurechnungsfähigen Rechtsbrecher will die Expertenkommission zur Gänze vom Strafvollzug in öffentliche Krankenhäuser (siehe unten) überführen, wo sie überwiegend von Therapeuten betreut statt bewacht werden sollen.

Die zurechnungsfähigen, aber geistig abnormen Rechtsbrecher sollen in der Regel mit ihrem Strafende auch aus der unbefristeten Anhaltung entlassen werden. Derzeit sitzen sie im Schnitt um fünf Jahre länger hinter Gittern, als die verhängte Freiheitsstrafe ausmacht.

Nur noch schwere Verbrechen mit einer Strafandrohung von mehr als drei Jahren sollen zusätzlich zur Strafe die Einweisung rechtfertigen (bisher auch bei Vergehen ab einem Jahr). Schon in der U-Haft oder während der vorläufigen Anhaltung – also vor dem Prozess – soll mit der Therapie begonnen und der Betroffene, je nach Erfolg, probeweise entlassen werden. Dadurch könnten Einweisungen vom Gericht öfter bedingt ausgesprochen werden.

Die vorzeitige bedingte Entlassung soll forciert werden, wobei künftig geschulte Sonderstaatsanwälte, spezielle Richter und fachkundige Laienrichter darüber urteilen sollen. Basieren müssen die Entscheidungen auf den Gutachten von eigens dafür ausgebildeten forensischen Sachverständigen, die für ihre Expertisen statt pauschalierter Fixsätze einen entsprechend hohen Stundenlohn bekommen sollen.

Die Entlassung der Angehaltenen soll besser vorbereitet und erprobt werden. "Eine erfolgreiche Therapie mündet in sorgfältig abgestufte Lockerungen der Maßnahme", die der Überprüfung dienen, steht im Reformpapier. Wenn eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit nicht zu befürchten ist, schlagen die Experten testweise Ausgänge vor, wobei sie das "zumutbare Restrisiko" neu definieren wollen. Gutachter sollen die "abgeklungene Gefährlichkeit" dokumentieren. Die dringend auszubauende Nachbetreuung soll die "Restgefährlichkeit kompensieren." Schon jetzt könnte nach Ansicht der Experten jeder dritte unzurechnungsfähige Angehaltene entlassen werden.

Justizminister Wolfgang Brandstetter will versuchen, "diese überzeugenden Vorschläge möglichst rasch auch umzusetzen".

Geistig abnorme Täter: Das "zumutbare Restrisiko"

Beim Plan, unzurechnungsfähige Straftäter in Spitälern unterzubringen, kommen die Bundesländer als größte Spitalserhalter ins Spiel. Die zuständigen Politiker reagierten zurückhaltend auf den Vorschlag. „Wir warten auf einen Vorschlag des Justizministers“, hieß es im Büro der Wiener Gesundheitsstadträtin Sonja Wehsely.
Sollte der Minister den Experten-Vorschlag übernehmen, kommt das Thema bei den Finanzausgleichsverhandlungen 2016 aufs Tapet.

Über die Sinnhaftigkeit des Vorschlags herrscht Konsens zwischen Justiz- und Gesundheitsressort. Sektionschef Gerhard Aigner saß als Vertreter des Gesundheitsministeriums in der Expertengruppe. Die „Player sind die Länder“, betont er.

Das Gesundheitsressort unterstützt die Justiz, etwa mit der novellierten Ärzteausbildung. Forensische Medizin soll in der Ausbildung von Psychiatern größeres Gewicht bekommen. Dadurch werde es auch mehr Gutachter und Fachpersonal geben.

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