Flüchtlinge: Innenminister stehen auf der Bremse

Nach der Flüchtlingswelle im Herbst kommen auch im Winter täglich Tausende über die Grenze.
Der KURIER sprach mit Johanna Mikl-Leitner über die Flüchtlingswelle und die jüngsten Terrorwarnungen in Österreich.

Bei den Flüchtlingen setzen sie mit ihrer Politik wiederholt Kontrapunkte zu Angela Merkel und Werner Faymann. Die Terrorgefahr vereint sie. Johanna Mikl-Leitner und Joachim Herrmann warnen: Ändert sich nichts, gibt es 2016 120.000 Asylanträge in Österreich und über eine Million in Deutschland.

KURIER: Der Flüchtlingsstrom, der dieses Jahr über Österreich hereinbrach, hat viele in der Politik überrascht. Sie nicht?

Mikl-Leitner: Nein. Ich habe seit Mai 2014 vor den Migrationsströmen, die auf uns zukommen, gewarnt. Mittlerweile haben alle erkannt, dass es sich dabei nicht nur um ein Thema des Innenressorts handelt, sondern dass alle Ministern, Länder und Gemeinden betroffen sind.

Wie schaut bei den Flüchtlingen die Bilanz 2015 aus?

Seit Anfang September bis knapp vor Weihnachten sind 641.000 Fremde nach Österreich ein- oder durchgereist. Rund 86.500 haben seit Jänner einen Asylantrag gestellt.

Hat der Sicherheitsapparat wirklich alles richtig gemacht? Es gab viel Kritik an den Zelten.

War im Sommer das Unwort Zelt, ist es jetzt Zaun. Beide Maßnahmen waren wichtig und richtig. Die Zelte waren notwendig, weil es trotz aller Kraftanstrengung der Länder nicht gelungen ist, ausreichend Quartiere zu schaffen. Bei der Entscheidung, ob wir Obdachlosigkeit produzieren oder die Flüchtlinge im Zelt versorgen, habe ich mich für die Lösung Zelt entschieden.

Und der Zaun?

Die Bevölkerung erwartet eine kontrollierte Einreise. Dazu braucht es den Zaun und ein geregeltes Leitsystem. So können wir einerseits bis zu 11.000 Flüchtlinge binnen 24 Stunden bei der Einreise durchsuchen und kontrollieren, aber andererseits auch die Einreise dämpfen.

Aber was macht ein lückenhafter Zaun für einen Sinn?

Flüchtlinge: Innenminister stehen auf der Bremse
ABD0043_20151113 - WIEN - ÖSTERREICH: Innenministerin Johann Mikl-Leitner (ÖVP) am Freitag, 13. November 2015, anl. einer Pressekonferenz zur Grenzsicherung im Innenministerium in Wien. - FOTO: APA/HERBERT NEUBAUER
Wenn es Lücken gibt, werden wir diese mit zusätzlichem Personal schützen. Das verursacht Mehrkosten, ist aber kein Sicherheitsproblem. Wir werden die lückenlose Kontrolle durch personelle Ressourcen gewährleisten.

Nach Deutschland diskutiert man auch in Österreich über Obergrenzen. Ihre Position?

Da halte ich es mit dem Vizekanzler. Der sagt, dass es eine kapazitätsorientierte Obergrenze braucht. Wir sind in vielen Bereichen bereits am Limit. Sei es bei den Quartieren oder bei der Betreuung. Jeder weiß, dass es unsere Systeme auf Dauer nicht schaffen, jedes Jahr 100.000 Menschen aufzunehmen. Da braucht es jetzt rasch die Verschärfung des Asylsystems.

Was passiert, wenn die Kontrolle der EU-Außengrenze nicht wie geplant gelingt?

Dann werden immer mehr Staaten eigene Maßnahmen setzen. Deswegen gilt der Fokus auf die Sicherung der EU-Außengrenze.

Wie läuft die Zusammenarbeit mit den Nachbarländern?

Generell gibt es in der EU zu wenig Solidarität. Hier versuchen manche Mitgliedsstaaten, sich die Rosinen herauszupicken, und wenn es um die Flüchtlinge geht, sich zu ducken.

Geht es konkreter?

Ungarn macht eine Politik der Abschottung. Auch die anderen umliegenden Mitgliedsstaaten ducken sich bei den Flüchtlingen.

Auch Deutschland?

Auch Deutschland muss die Haltung einer grenzenlosen Willkommenskultur ändern, in Richtung einer Kultur mit Augenmaß und Vernunft. Auch hier werden Überlegungen angestellt, die Flüchtlingsströme zu reduzieren.

Thema Sicherheit: Hat die Willkommenspolitik das Geschäft der Schlepperorganisationen gefördert oder gedämpft?

Eine grenzenlose Willkommenskultur ist immer ein guter Boden für Schlepper.

Was unternehmen Sie gegen das Netzwerk?

Wir werden den Kampf gegen die Schlepper europaweit weiter intensivieren. Und es geht um die Umsetzung der langfristigen Strategie, Flüchtlinge, die eine Chance auf Asyl haben, über UNHCR-Zentren in den Herkunftsregionen sicher nach Europa zu bringen. So etwas würde den Schleppern den Nährboden entziehen. Wir haben dazu auf europäischer Ebene einen Vorschlag gemacht.

In Salzburg sitzen zwei IS-Verdächtige in Haft, die sich unter den Flüchtlingsstrom gemischt haben. Die Spitze des Eisbergs?

Das unterstreicht das Problem des Kontrollverlustes an der EU-Außengrenze. Dem müssen wir ein Ende setzen.

Wie sehen Sie die Bedrohungslage für Österreich?

Unsere Experten sprechen von erhöhter Terrorgefahr. Unsere Polizei ist daher in ständigem internationalem Austausch mit befreundeten Sicherheitsbehörden. Niemand kann Anschläge in Europa zu hundert Prozent ausschließen. Es ist daher Vorsicht geboten, aber kein Anlass zur Panik.

Temporäre Passkontrollen am Flughafen gibt es bereits. Werden wir uns in ganz Europa auf rigorose Einreisekontrollen einstellen müssen?

Ja. Dazu gibt es bereits einen Beschluss auf EU-Ebene. Es wird zu systematischen Kontrollen an den Außengrenzen kommen, innerhalb Europas auf den Flughäfen.

Wie viele Flüchtlinge erwarten Sie im kommenden Jahr an Österreichs Grenze?

Die Zahl der Flüchtlinge an unseren Grenzen wird 2016 davon abhängig sein, wie schnell die EU-Außengrenze effektiv gesichert wird, das muss oberste Priorität haben. Und ob wir rasch die Verschärfungen beim Familiennachzug und durch Asyl auf Zeit umsetzen.

Gibt es da mehrere Szenarien?

Wenn wir die Hände in den Schoß legen, müssen wir mit bis zu 120.000 Asylanträgen rechnen. Das halte ich für inakzeptabel. Darum will ich das mit den Verschärfungen des Asylrechts verhindern.

Lesen Sie hier das Interview mit dem bayerischen Innenminister Joachim Herrmann.

KURIER: 2015 war das Jahr, in dem in Europa die Zäune gewachsen sind. Was halten Sie von dem Modell, das in Österreich errichtet wurde?

Für mich ist entscheidend, dass an den Schengen-Außengrenzen ordentlich kontrolliert wird. Und vor diesem Hintergrund muss man klar zur Kenntnis nehmen: Ungarn sichert seine Grenze. Sollte Slowenien seine Grenze effektiv schützen und wir darüber hinaus insgesamt auch wieder eine gesicherte EU-Außengrenze haben, dann brauchen wir keine Kontrollen an der österreichischen oder der deutschen Grenze mehr.

Würden Sie sich mehr Kontrollintensität in Österreich Richtung Süden wünschen?

Besser wäre, wenn schon an der slowenisch-kroatischen Grenze kontrolliert würde.

Aber die Realität sieht zurzeit anders aus.

Klar ist für uns in Deutschland, entweder sind die Schengen-Außengrenzen wirksam gesichert oder wir müssen unsere eigenen deutschen Grenzen sichern.

Also keine Ratschläge nach Österreich?

Die österreichischen Kollegen wissen selbst, was zu tun ist.

Vor zwei Monaten haben Sie die österreichische Bundesregierung angesichts unangekündigt an die Grenze gebrachter Flüchtlinge als "Schleuser" bezeichnet. Haben sich die Beziehungen wieder entspannt?

Was mich im Herbst wirklich geärgert hat, ist, dass die österreichischen Behörden zeitweilig nachts, ohne Ankündigung, Hunderte Flüchtlinge in die Landschaft gestellt haben, die weder angemessene Kleidung noch Essen oder Trinken hatten. Das war eine Zumutung für die Helfer und die Flüchtlinge. Die praktischen Abläufe haben sich jetzt deutlich verbessert. Das Ganze ist immer noch eine Folgewirkung dessen, was die deutsche Bundeskanzlerin und der österreichische Bundeskanzler vereinbart haben. Wobei das kein Dauerzustand sein kann. Die Kanzlerin sagt ja nun, die Zahl der Flüchtlinge muss reduziert werden. Das ist auch Zielsetzung ihrer außenpolitischen Maßnahmen.

Wie lange ist die Schonfrist, die Bayern der Außenpolitik einräumt, bis auf dichte Grenzen und Zurückweisungen von Flüchtlingen nach Österreich gedrängt wird?

Ich will keine Fristen nennen. Aber ich denke, dass die Kommunen in Deutschland alle wahrnehmen, dass das 2016 nicht in gleicher Quantität beliebig so weiterlaufen kann. Wir hatten in den letzten Tagen ständig um die 3500 bis knapp 4000 Flüchtlinge, die nach Deutschland gekommen sind. Das sind immer noch viel zu viele. Wir dürfen diese Größenordnung nicht verniedlichen, nur weil es schon einmal 10.000 waren. 3500 Flüchtlinge täglich wären für Deutschland weit über eine Million im kommenden Jahr. Wir brauchen also eine weitere deutliche Reduzierung. Da liegt die Herausforderung für die nächsten Wochen und Monate.

Sie haben gefordert, dass alle Grenzübergänge zwischen Österreich und Deutschland kontrolliert werden. Geht es Ihnen hier um das Abbremsen des Flüchtlingsstroms?

Mir geht es dabei gegenwärtig vor allem um die Kriminalität und speziell um die Gefahr des Terrorismus. Denn wir wissen, dass mindestens zwei der Paris-Attentäter auf Flüchtlingswegen aus dem Nahen Osten gereist sind. Wir kennen das Problem von Tausenden gestohlenen syrischen Pässen, die jetzt für Fälschungen missbraucht werden. Wir haben unabhängig davon mit unseren Schleierfahndern im November ein Fahrzeug aus dem Verkehr gezogen, in dem acht Kalaschnikows, Sprengstoff und Munition versteckt waren. Angesichts dessen brauchen wir konsequente Kontrollen von Personen und Fahrzeugen. Das muss an allen Grenzübergängen gewährleistet sein.

Und das würden Sie gerne selbst übernehmen.

Seitens Bayern haben wir angeboten, dort zu kontrollieren, wo die Bundespolizei diese Aufgabe nicht übernehmen kann oder will. Das hat der Bund bislang abgelehnt. Aber wir bleiben am Ball.

Gibt es unter diesen Vorzeichen überhaupt noch ein Zurück zu dem Schengenraum, wie wir ihn gekannt haben?

Ich will mich von Schengen nicht verabschieden. Ich glaube, dass die allermeisten Menschen die Freiheiten, die damit verbunden sind – im Tourismus, bei Geschäftsreisen, im Verkehr – zu schätzen wissen. Entscheidend ist, dass wir das, was im Schengen-Abkommen steht, ernst nehmen. Aber es gibt Länder wie Griechenland, die ihren Verpflichtungen überhaupt nicht nachkommen.

Da muss man dazu kommen, dass solche Länder den Schengen-Raum wieder verlassen müssen. Die EU muss sich im Klaren sein, dass man hier handeln muss, wenn man nicht ein wesentliches Projekt der europäischen Einigung infrage stellen will.

Hat man diese Länder mit ihren langen Außengrenzen zu lange alleine gelassen? Sowohl mit Grenzkontrollen, als auch mit den Flüchtlingsbewegungen, die viele erst interessiert haben, als die Menschen in Zentraleuropa vor der Türe standen?

Griechenland hat es extrem schwer, gerade mit den vielen Inseln in der Ägäis. Ich weiß nicht, was man sich damals dabei gedacht hat, als man dieses Land in den Schengen-Raum aufgenommen hat. Der griechische Staat war auch in seiner damaligen Verfassung kaum in der Lage, effektiven Schutz zu garantieren. Es gehört zur typischen europäischen Blauäugigkeit, dass man nur Regeln aufstellt, wie man jemand im Schengen-Raum aufnimmt, nicht aber, wie man ihn wieder zum Verlassen auffordern kann. Ich will Schengen nicht aufgeben, sondern konsequent anwenden. Das bedeutet aber, dass wir uns von denjenigen, die bei der konsequenten Anwendung nicht mitmachen wollen, aus dem Schengenabkommen verabschieden müssen.

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