"Ich musste jeden Tag über die Nibelungenbrücke"

Hildgard Janda (83) beim Interview mit dem KURIER.
Die Linzerin Hildegard Janda (83) erzählt über ihre Jugend in einer geteilten Stadt, über russische und amerikanische Besatzer und ihre Mutter, die ihr nach wie vor ein Vorbild ist.

Vor fast genau 70 Jahren, am 5. Mai 1945, marschierten US-amerikanische Truppen in Linz ein. Der Stadtteil Urfahr wurde zwischen 27. Juli und 3. August von den Sowjets besetzt und verselbständigt. Die Donau bildete bis 1955 die Demarkationslinie zwischen Russen und Amerikanern.

Die Linzerin Hildegard Janda (83), geboren am 26. Oktober 1932 als Tochter des Konditormeisters Karl Reiter und der Gouvernante Ludmilla Reiter, verbrachte ihre Jugend im geteilten Linz. Während der Vater in russischer Kriegsgefangenschaft war, lebte sie mit ihrer Mutter und vier Geschwistern in der Kreuzstraße in Urfahr. Die Schule besuchte Janda in der Linzer Eisenhandstraße. Sie musste daher fast täglich die Nibelungenbrücke überqueren und die Kontrollposten der Alliierten passieren.

KURIER: Wie haben Sie das Kriegsende erlebt?

Hildegard Janda: Wir waren ab 1944 in Peuerbach im Hausruckviertel untergebracht, weil meine kleine Schwester erst ein Jahr alt war und wir dort vor den Bomben sicher waren. Der Bruder meines Vaters hat uns im Haus seiner Schwiegermutter eine kleine Wohnung besorgt. Ich habe die Hauptschule in Peuerbach besucht. Dann sind im Frühjahr 1945 auf einmal Soldaten gekommen. Wir haben zuerst gedacht, das sind die Ungarn, die mit uns kämpfen. Dabei waren es die Amerikaner, die bereits auf dem Weg nach Linz waren. Es war kurz vor dem Kriegsende. Die Amerikaner haben sich dann auf einer Seite am Peuerbacher Hauptplatz einquartiert. Weil wir das kleine Kind hatten, haben meine Mutter, meine Geschwister und ich aber weiter in der Wohnung in Peuerbach bleiben dürfen. Die Amerikaner waren sehr nett.

Wann sind Sie nach Linz zurückgekehrt?

Das war noch im Mai 1945. Wir sind wieder in unsere Wohnung in die Kreuzstraße in Urfahr gezogen. Im Mai waren noch die Amerikaner in Urfahr. Später sind dann die Russen gekommen. Zuerst gab es keine strengen Kontrollen, wenn man mit der Straßenbahn über die Nibelungenbrücke gefahren ist. Da haben sich viele ehemalige Soldaten unter die Sitze gelegt und die Frauen haben sie mit ihren Röcken zugedeckt. So konnten sie unerkannt die Zonengrenze überqueren. Später mussten dann alle aus der Straßenbahn aussteigen, dann ging das nicht mehr.

Sie waren von 1942 bis 1948 mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern allein.

Mein Vater war ab 1938 Konditormeister in den Ringbrot-Werken, er hat die Stelle bekommen, als der Hitler einmarschiert ist. Kurz vor Weihnachten 1942 war er der einzige Mann im Werk. Weil der Hitler unbedingt den Krieg gewinnen wollte, musste auch mein Vater einrücken, obwohl er eigentlich unabkömmlich gestellt war. Er musste zuerst nach Frankreich, da sind aber 1944 die Amerikaner gelandet. Mein Vater kam danach ins Baltikum und wurde später von den Russen gefangen genommen. Er war in Minsk im heutigen Weißrussland in Kriegsgefangenschaft. Zuerst hat es geheißen, dass er Weihnachten 1945 nach Hause darf. Er wurde aber als Deutscher geführt, deshalb hat sich die Freilassung verzögert. Meine Mutter ist extra nach Wien gefahren, um bei den Sowjets zu intervenieren.

Wie hat es Ihre Mutter geschafft, die Familie durchzubringen?

Meine Mutter war einfach 1a. Sie hat alles für die Familie getan. Teilweise ist sie um halb fünf Uhr Früh auf den Pöstlingberg gefahren, als wir Kinder noch alle geschlafen haben. Sie hat dort von einer Bäuerin Milch geholt. Auch im Mühlviertel und im Eferdinger Becken hat sie bei den Bauern immer wieder Sachen gehamstert. Wie sie das alles geschafft hat mit dem kleinen Geld, das sie bekommen hat, weil ihr Mann in Gefangenschaft war, das weiß ich nicht. Meine Mutter hat oft den ganzen Tag nichts zu essen gehabt. Wir Kinder haben immer genug gehabt.

Ihre Mutter hat auch anderen geholfen.

Sie hat mit der Raucherkarte Zigaretten gekauft und diese dann weiterverkauft. Für das Geld hat sie einen Pass erstanden und mit so einem Pass sind wir Kinder gemeinsam mit österreichischen Heimkehrern in die amerikanische Zone gegangen. Den Pass haben wir dann wieder mit heimgenommen und erneut verwendet. Das waren bestimmt fünf oder sechs Soldaten, denen wir so geholfen haben.

Sie sind in Linz in die Schule gegangen, obwohl Sie in Urfahr gewohnt haben.

Ich habe die Schule in der Eisenhandstraße besucht. Da bin ich reingekommen, weil in der Körnerschule kein Platz mehr war. Ich war dort bis zum Ende der 4. Klasse, das war im Jahr 1947. Ich war die einzige Urfahranerin in der Klasse.

Sie mussten als fast jeden Tag über die Nibelungenbrücke.

Ich war ein kleines Mädchen, da bin ich bei den Kontrollposten einfach auf der Seite vorbeigegangen. Ab und zu bin ich mit DDT (Dichlordiphenyltrichlorethan, ein Insektizid, das die Amerikaner aus Furcht vor Ungeziefer einsetzten) eingestaubt worden. Bei den Mädchen, die schon ein bisschen älter waren, 17, 18 oder 19, haben die Amerikaner das immer gemacht. Da haben sie ihnen die Bluse aufmachen lassen, damit sie sie einstauben können. Da haben die Soldaten auch etwas gesehen. Das hat sie interessiert, die Amerikaner.

Wie haben Sie die Besatzungssoldaten erlebet?

Die waren sehr nett. Im Hotel Achleitner war ein Kino für die Russen, da haben wir auch manchmal hingehen dürfen. In der Rosenauerstraße gab es ein kleines Theater. Es war einiges los.

Und die Amerikaner?

Bis auf das Einstauben waren sie nicht unangenehm. Bei mir gab es zum Glück noch nicht viel zu sehen. Meine kleine Schwester hat von den Amerikanern immer Schokolade bekommen. Nur einmal hatten wir vor den Besatzern Angst, das war 1945. Da ist mein Onkel gekommen und hat gesagt, er habe gehört, dass die Tschechen das Mühlviertel besetzen wollen, wozu es nie gekommen ist. Er hat gesagt, bei den Tschechen lasse ich euch nicht. Wir sind dann rüber nach Linz. Meine Brüder sind in der Wohnung in der Kreuzstraße geblieben, weil so viele Leute herumgezogenen sind, die ausgebombt waren. Die haben leer stehende Wohnungen einfach besetzt.

Wie hat es damals in Linz ausgesehen?

Es war viel zerbombt. Aber davon habe ich wenig mitbekommen, die Trümmer waren nach dem Kriegsende auch schnell beseitigt. Ich war eigentlich immer nur in der City unterwegs. Meine Mutter ist mit uns öfter auf den Spatzenberg und auf den Pöstlingberg gegangen.

Wie sah ihr Tagesablauf als Schülerin aus?

Entweder musste ich Mittag hinüber zum Unterricht in die Eisenhandstraße oder schon in der Früh. Danach bin ich immer nach Hause und habe ein Essen bekommen.

Was hat es damals zu Essen gegeben?

Mein Gott, eine Suppe und Kartoffeln, Fleisch sehr selten. Ich weiß nur, dass es geschmeckt hat und es war immer genug. Oft habe ich wegen des Lernens aufs Essen vergessen. Mich hat nur das Lernen interessiert.

Sie hätten studieren können.

Als ich mit der Mittelschule fertig war, hat der Klassenvorstand meine Mutter kommen lassen und ihr gesagt, dass ich Klassenbeste bin und weiter in die Schule gehen soll. Ich hätte sogar ein Stipendium bekommen. Aber ich hatte große Angst vor der Matura, weil ich geglaubt habe, dass man da den Stoff von allen acht Jahren können muss. Außerdem waren wir fünf Kinder und der Vater war in Gefangenschaft. Meine Mutter hätte sich das nicht leisten können.

Sie haben eine Lehre begonnen.

Meine Mutter hat mir einen Lehrplatz besorgt, das war damals nicht leicht. Ich habe in der Drogerie zum Samariter in der Bismarckstraße/Ecke Landstraße angefangen. Mein Bruder war schon Drogist und ich habe gesehen, was er so lernen muss, Chemie zum Beispiel. Das hat mich interessiert.

Ihr Vater ist ein Jahr später zurückgekehrt.

Das war im März 1948. Ich bin heimgekommen von der Drogerie zur Mittagspause und wollte die Tür zur Küche aufmachen, die war aber zugesperrt. Da habe ich an die Tür gebumpert und gesagt, machts auf, ich weiß es genau, dass der Papa da ist. Mei’ hab’ ich mich gefreut. Er ist mir sehr klein vorgekommen, wahrscheinlich, weil ich ihn sechs Jahre nicht gesehen hatte und selbst deutlich größer geworden bin. Was mir später sehr leid getan hat, war, dass ich ihn nie gefragt habe, was er im Krieg und in der Gefangenschaft erlebt hat. Aber er hätte mir, glaube ich, nichts erzählt.

1950 haben Sie Ihre Ausbildung abgeschlossen.

Ich habe mit Auszeichnung bestanden. Dann war ich noch ein Jahr bei meinem Chef. Er wollte mich eigentlich nicht weglassen, aber ich hatte erfahren, dass sie in der Sternapotheke eine Drogistin suchen. Da wollte ich hin.

Wie haben Sie Ihren Mann kennengelernt?

In der Drogerie, da hat er seine Fotos aufgegeben. Der hat immer schon fotografiert, sein Vater war Oberamtsrat, der hat sich das leisten können. Mein späterer Mann hat auf der Krankenkasse gearbeitet. Da haben sie ihm gesagt, geh doch zur Drogerie zum Samariter, dort ist ein hübsches Lehrmädchen. Er wollte unbedingt mit mir bekannt werden. Ich habe ihm gesagt, ich habe zwei Brüder, ich brauch keinen Freund. Trotzdem ist er mir in die Tanzschule nachgegangen, obwohl er eigentlich in einer anderen Tanzschule war, beim Schlesinger. Er ist so lange hartnäckig gewesen, bis ich ja gesagt habe. Als ich dann seine Maturazeitung gelesen habe, da habe ich gesehen, wie viele Freundinnen er schon gehabt hat, er war ja ein fescher Kerl.

Wenn man Ihnen zuhört, gewinnt man den Eindruck, dass Sie die Nachkriegszeit in positiver Erinnerung haben.

Ich hatte eine schöne Zeit, dank meiner Mutter, die sich für uns eingesetzt hat. Und während des Kriegs sind wir nach Peuerbach gekommen, bevor es wirklich schlimm geworden ist.

Hildegard Jandas Mann Walter starb im Alter von 65 Jahren. Nach einem Schlaganfall war der Jurist halbseitig gelähmt und 14 Jahre lang pflegebedürftig.

Aus der Ehe gingen zwei Töchter hervor, Ursula und Gabriele.

Mit 32 Jahren erkrankte Hildegard Janda an Gebärmutterhalskrebs und musste operiert werden. Heute lebt die 83-Jährige in Linz-Urfahr. Sie schätzt das Reisen und die Kultur. Besonders im Linzer Stadtmuseum Nordico ist sie häufig anzutreffen.

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