Wegsperren statt Therapie

Wegsperren statt Therapie
Der Fall in Krems-Stein zeigt massive strukturelle Mängel im Umgang mit psychisch Kranken auf.

Die Idee war gut, die Umsetzung ist gescheitert. In diesen knappen Worten lässt sich der Maßnahmenvollzug in Österreich beschreiben, der in dieser Woche durch einen schockierenden Vorfall in der Justizanstalt Krems-Stein Schlagzeilen machte. Der Falter hatte, wie berichtet, aufgedeckt, dass sich dort offenbar monatelang niemand um den 74-jährigen Häftling Wilhelm S. gekümmert hatte. S. sitzt seit 1995 wegen versuchten Mordes ein – weil er schwere psychische Probleme hat, also "geistig abnorm" ist, im Maßnahmenvollzug. Diesen gibt es in Österreich seit den 70er-Jahren. Seit 2000 ist die Zahl der Menschen im Maßnahmenvollzug aber massiv gestiegen (s. Grafik) – "weil einerseits vermehrt eingewiesen und andererseits länger angehalten wird", glaubt Gerichtspsychiaterin Heidi Kastner.

Zwei Gruppen

Ursprünglich wollte das Strafgesetzbuch, das 1975 in Kraft getreten ist, mit den "vorbeugenden Maßnahmen" einerseits die Gesellschaft schützen, andererseits den psychisch kranken Tätern helfen ("Therapie statt Strafe"). Wobei psychisch krank nicht gleich psychisch krank ist: Wer nach § 21/1 verurteilt wird, ist aufgrund einer "geistigen oder seelischen Abartigkeit von höherem Grad" zurechnungs- und damit auch schuldunfähig – diese im Justizjargon "Einser" Genannten bekommen keine Strafe, sondern werden so lange behandelt, bis sie keine Gefahr mehr für andere darstellen. Wer nach § 21/2 verurteilt wird, ist zwar auch "geistig oder seelisch abartig", allerdings trotzdem zurechnungs- und schuldfähig – die "Zweier" bekommen daher sehr wohl eine (Haft-)Strafe und zusätzlich eine Maßnahme, sprich eine unbefristete Behandlung. Und zwar in speziellen Justizanstalten.

So weit die gut gemeinte Theorie aus den 1970ern.

Heute sind die Sonderanstalten so voll, dass die geistig abnormen Rechtsbrecher mittlerweile entweder als teure (Privat-)Patienten in psychiatrischen Krankenhäusern oder in ganz normalen Gefängnissen untergebracht sind. "Und dort gehören sie einfach nicht hin", sagt die emeritierte Rechtsanwältin Katharina Rueprecht, die (gemeinsam mit Verfassungsrechtler Bernd-Christian Funk) das Buch "Staatsgewalt. Die Schattenseiten des Rechtsstaates" geschrieben hat.

11 Jahre statt 6 Monate

Darin beschreibt Rueprecht unter anderem den Fall des paranoid-schizophrenen Bernhard K., der im Alter von 26 Jahren seinem Psychiater Droh-Mails geschickt hatte, deswegen im Jahr 2000 zu sechs Monaten Haft verurteilt wurde und danach noch elf Jahre im Maßnahmenvollzug saß. "Weil man ihm mangelnde Compliance vorgeworfen hat, das heißt, er hätte seine Zwangsbehandlung nicht nur ertragen, sondern auch gutheißen müssen", sagt Rueprecht. Heute lebe K. in einem Pflegeheim in der Steiermark – "und gefährlich ist er auch dort nicht".

Wegsperren statt Therapie
privat
Dass viele der Menschen, die im Maßnahmenvollzug sitzen, nicht dort sitzen müssten oder sollten, meint auch Florian Engel von der Abteilung Betreuung in der Vollzugsdirektion. "Eine Justizanstalt ist immer eine Justizanstalt, es fehlt dort einfach das therapeutische Milieu." Engel glaubt, man könnte ein Drittel der Menschen im Maßnahmenvollzug "sofort rauslassen, aber das scheitert daran, dass es keine ausreichende Nachbetreuung gibt." Er wünscht sich daher neben mehr Fachpersonal auch eine 15a-Vereinbarung zwischen Bund und Ländern, "denn derartige Sozialhilfestrukturen wären eigentlich Ländersache, die halten sich aber bei dem Thema raus." Sprich, sie übernehmen keine Haftentlassenen in ihre Betreuungseinrichtungen. Und wenn neue gebaut werden sollen, legt sich die Bevölkerung quer. Zuletzt geschehen in Niederösterreich: Dort wollte Pro mente plus ein Nachbetreuungsprojekt realisieren, scheiterte aber am Widerstand der Bevölkerung "und am fehlenden Rückhalt der politisch Verantwortlichen", sagt Geschäftsführer Christian Rachbauer. Dabei habe Pro mente in den vergangenen zehn Jahren in Linz, Salzburg, Wien und Innsbruck insgesamt 1500 Menschen betreut – "ohne nennenswerte Rückfälle und ohne Konflikte mit den Nachbarn". Und kostengünstiger, meint Rachbauer. "Ich bin davon überzeugt, dass man mit denselben finanziellen Mitteln außerhalb der Justizanstalten ein viel besseres Angebot machen kann, das ist nicht das Thema." Sondern? "Das Thema ist die Unsicherheit. Das Sicherheitsdenken zieht sich in unserer Gesellschaft überall durch, niemand traut sich Entscheidungen zu treffen oder Verantwortung zu übernehmen."

Keiner will schuld sein

Das führt dann dazu, dass Richter (künftig vielleicht nicht mehr ganz so) schlecht bezahlte und zum Teil nicht forensisch ausgebildete Gutachter beauftragen, die die Gefährlichkeit des Gefangenen oft in Minutenschnelle beurteilen. Und ihn im Zweifel lieber länger eingesperrt lassen – "weil der Gutachter will ja auch nicht schuld sein und von den Boulevardmedien an den Pranger gestellt werden, wenn er ihn auslässt und der dann was anstellt", sagt Rueprecht.

Bereits seit geraumer Zeit machen der Justizanstalt Josefstadt Engpässe beim Wachpersonal zu schaffen. Die mangelnden personellen Ressourcen im (mit offiziell 921 Haftplätzen) größten Gefängnis des Landes haben am Donnerstag dazu geführt, dass keine Vorführungen stattfinden konnten. Das heißt: Sämtliche Besuche in der Vorführzone mussten gestrichen werden.

Dass Insassen und vor allem frisch in die Justizanstalt eingelieferte Häftlinge damit nicht mit ihren Rechtsvertretern sprechen konnten, ist für Richard Soyer, einen der Sprecher der Vereinigung Österreichischer StrafverteidigerInnen „eine schwerwiegende Verletzung von Verfahrensgrundrechten der Betroffenen“, wie er am Freitag gegenüber der APA erklärte.

Grundrecht

Noch schärfere Worte fand Heinz Patzelt, Generalsekretär von Amnesty International: „Das bedeutet Alarmstufe Rot für das Justizsystem.“ Es könne nicht hingenommen werden, „wenn frisch Verhaftete nicht umgehend mit ihren Anwälten und in angemessener Zeit mit ihren Familien in Kontakt kommen können, weil die Justiz nicht über ausreichendes Personal verfügt“, sagte Patzelt, der „ganz klar eine schwerwiegende Grundrechtsverletzung“ ortet. Diese sei mit Personalmangel nicht zu rechtfertigen: „Vorher wäre in der Justizanstalt alles andere zu streichen gewesen.“

Strafverteidiger berichten schon seit Wochen über Probleme, sie müssten oft stundenlang auf die Häftlinge warten, weil es zu wenig Justizwachebeamte gibt, die sie aus den Zellen holen könnten. Dem Vernehmen nach kursiert in der Anwaltschaft mittlerweile eine Unterschriftenliste, mit der die Verteidiger bei Justizminister Wolfgang Brandstetter (ÖVP) eine Reaktion auf die aus ihrer Sicht untragbaren Zustände bewirken möchten.

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