"Warum sind wir achtlos?"

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Tarek Leitner widmet sich in seinem neuen Buch dem teils nicht vorhandenen Umgang mit gebauten Strukturen, welche Folgen es unter anderem hat, wenn wir den virtuellen Raum dem Realen vorziehen und warum wir wieder viel mehr hinschauen sollten.

Sie sind Jurist, arbeiten als Journalist und moderieren die "Zeit im Bild" – Architektur spielt in Ihrem Beruf nur eine Nebenrolle. Warum aber beschäftigen Sie sich auch in Ihrem zweiten Buch mit diesem Thema?

Für mich ist es dasselbe, was ich als Journalist auch täglich tue. Ich schaue auf Zustände in unserer Gesellschaft und zeige sie auf. Es geht um unsichtbare Vorgänge, Debatten, Diskussionen und Normen, die unser Zusammenleben regeln. Es geht mir um die materiell abgebildete Welt. Ich betreibe keine Architekturkritik im engeren Sinn. Im Grunde genommen möchte ich ,draufschauen‘, wie sich der Zustand unserer Gesellschaft, also die Verfasstheit unserer gegenwärtigen Gesellschaft, in der gebauten Landschaft abbildet.

Es geht also um das Spiegelbild der Gesellschaft?

Genau. Derzeit entwickelt sich die Gesellschaft mit einer nahezu selbstverständlichen Achtlosigkeit weiter. Wir sind in höchstem Maße achtlos und schenken unserer gebauten Umgebung keine Aufmerksamkeit. Mit unserer Verfasstheit prägen wir diese jedoch sehr wohl mit und das wiederum beeinflusst uns. Wenn wir also kommerzialisierte Disney-Welten schaffen, ist das nicht nur ein Abbild unserer Innerlichkeit, sondern wir prägen damit Kinder, Jugendliche und Erwachsene gleichermaßen. Das kann einem doch nicht egal sein, oder?

War früher alles anders?

Es war früher nichts besser, aber die reale Umwelt hatte im Vergleich zur virtuellen einen höheren Stellenwert. Was natürlich logisch ist, weil früher nicht so viele virtuelle Welten existiert haben, in denen sich heute aber viele von uns bewegen. Schon deshalb musste man sich stärker darauf konzentrieren, was um einen herum ist. Natürlich kann man jetzt sagen, das Rundherum ist mir egal, ich lebe in virtuellen Welten. Aber das bedeutet, dass uns die virtuelle Welt vergessen lässt, dass wir in der realen tatsächlich leben.

Virtuelle Welten sind an unserer Achtlosigkeit schuld?

Nicht nur, aber auch. Der wesentliche Unterschied zur Vergangenheit liegt eher in der Betrachtung und nicht darin, dass man früher sensibler mit Architektur umgegangen ist. Und im technologischen Fortschritt. Erstmals in der Menschheitsgeschichte haben wir die Möglichkeiten, binnen weniger Tagen riesige Kubaturen herzustellen. Und es scheint so, als würden wir vor nichts mehr haltmachen. Es gibt fast kein Limit.

Wie meinen Sie das?

"Warum sind wir achtlos?"
Wir können am Nordpol Logistikzentren errichten, plötzlich gibt es auf Gletschern riesige Hotelanlagen – alles ist möglich geworden. Die Technik zwingt uns erstmals in der Geschichte der Menschheit, Grenzen zu definieren, die wir bisher nicht ziehen mussten, weil es bisher natürliche gab. Ein Drittel der Gesamtfläche in Österreich ist als Siedlungsraum definiert, der Rest sind Forste, Berge, Seen, Sümpfe etc. Wer macht heute noch Halt vor Sumpfgebieten? Mittlerweile wissen wir, dass man ganze Inseln ins Meer aufschütten lassen kann. Das Problem liegt bei uns. Wir wollen alles überall können und wir merken dabei nicht, was wir in die Landschaft setzen. Wir müssen Grenzen ziehen und damit aufhören, den wirtschaftlichen Nutzen über alles zu stellen. Denn damit wird schlussendlich jeder Bau – egal, ob er einen Nutzen hat oder nicht – legitimiert.

Sie sagen auch, dass das Einfamilienhaus ein gesellschaftlicher Selbstbetrug ist. Viele Immobilienbesitzer haben sich über diese Aussage brüskiert. Warum sind Sie dieser Meinung?

Ein Haus mit Garten zählt zu 70 Prozent noch immer zur beliebtesten Wohnform des Landes. Bis zu einem gewissen Punkt kann ich das auch nachvollziehen. Aber gesamtgesellschaftlich ist es ein Selbstbetrug. Das Argument, dass es billiger ist, stimmt nicht. Wenn man aufs Land zieht, hat man zwar mehr Quadratmeter Wiese, aber man kann sie auch meistens zwei Stunden pro Tag weniger nutzen, weil man im Auto sitzt und zur Arbeit pendelt. Es ist also genau das Gegenteil von dem, was man sich von dieser Wohnform erwartet hat. Da stellt sich doch die Frage, ob nicht der innerstädtische Balkon, auf dem ich zwei Stunden tatsächlich verbringen kann, eventuell die bessere Entscheidung ist. Mittlerweile erachten wir es als Menschenrecht, ein eigenes Haus zu besitzen.

Können Sie das näher erklären?

Viele sehen es als ihr uneingeschränktes Recht an, überall bauen zu dürfen. Es darf niemanden geben, der ihnen das verbietet. Und schon gar nicht darf es Banken geben, die eine Finanzierung verweigern. Diese Selbstverständlichkeit stürzt viele ins Unglück. Die Pendlerpauschale fördert diesen Gedanken, man wird damit sozusagen belohnt. Und nun frage ich mich: Wo bleibt eine Stadtpauschale, schließlich ist das Leben hier teurer.

Und die Zahl der Einfamilienhäuser wird weiterhin zunehmen.

Ja, die Zahl wächst viel schneller als unsere Bevölkerung. Bei der Einreichung von Einfamilienhäusern im Jahr 2012 betrug die Bruttonutzfläche 300 , im Jahr 2008 waren es noch 250 . Die Grundstücke werden größer, wir verbauen mehr Fläche und zersiedeln ganze Landstriche. Und im Wesentlichen ganz ohne größeren Sinn. Bei privaten und bei gewerblichen Objekten müssen wir kompakter bleiben.

Wie werden wir achtsamer?

Das Wichtigste ist, dass wir wieder hinschauen und uns überlegen, was wir dabei empfinden. Es muss uns wieder bewusst werden, dass wir in einer realen Welt leben und alles was hier entsteht auch bleibt – meist für die Ewigkeit.

"Warum sind wir achtlos?"
„Wo leben wir denn? Glückliche Orte. Und warum wir sie erschaffen sollten.“ Von Tarek Leitner, erschienen im Brandstätter Verlag. € 22,50

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