Kommende Woche startet die neunte Ausgabe der "Vienna Design Week", bei der heuer Wiens einwohnerstärkster Bezirk im Fokus steht: Favoriten. Als Problembezirk verschrien, wartet die Gegend auf die Entdeckung ihrer kulturellen und architek- tonischen Seiten. Ein Streifzug durch den "Zehnten" mit Festivaldirektorin Lilli Hollein.
"Es gibt unheimlich viele Menschen, die in dieser Stadt leben und sich kaum ein Stück dieses Bezirks ergangen haben." Lilli Hollein gehörte bis vor Kurzem auch dazu – mit der Planung der diesjährigen Vienna Design Week hat sich das schlagartig geändert. IMMO begleitet sie bei der Erkundung von Favoriten, einer Stadt in der Stadt, deren Spektrum von urbaner Fußgängerzone, riesigen Wohnanlagen über triste Ausfahrtsstraßen bis zu grünen Erholungsgebieten reicht. Der Bezirk weist die höchste Einwohnerzahl, aber auch eine hohe Arbeitslosen- und Kriminalitätsrate auf. Seine Geschichte ist geprägt von Industrie und dem Zusammentreffen verschiedenster Kulturen.
"Anfangs haben wir gedacht, dass es hier noch jede Menge Industriehallen gibt – ein Fehlglaube", erzählt Hollein, deren Festival mit über 150 Veranstaltungen in zehn Tagen aufwartet. Ein Areal konnte sie ausfindig machen: Das Gelände der Ankerbrotfabrik fungiert heuer als Festivalzentrale. "Wir haben einen Ort gefunden, der in den Köpfen der lokalen Bevölkerung verankert ist und bereits Flagge als kulturelles Zentrum zeigt", sagt Hollein.
60 Orte, 150 Veranstaltungen: Favoriten ist der diesjährige Festivalbezirk.
Auf dem Gelände befand sich zwischenzeitlich die größte Brotfabrik Europas, 2009 wurde der stillgelegte Teil von Projektentwicklern aufgekauft und vor dem Abriss bewahrt. "Die Brotfabrik ist ein gutes Beispiel, wie eine historische Industriesubstanz zum zeitgenössischen Ort für Kunst und Kultur entwickelt werden kann. Die Eingriffe, die hier passiert sind, waren sehr sensibel und machen den von der Industrie geprägten Bezirk spürbar", meint Hollein. Ateliers, Galerien und Veranstaltungen beleben das Areal, während in unmittelbarer Nähe immer noch Gebäck produziert wird. Im Rahmen der Design Week finden Ausstellungen, Talks und Präsentationen statt, ein Besuch der Sky Lofts belohnt mit einem tollen Blick auf die Stadt.
Die unübersehbaren Veränderungen des Bezirks waren der Auslöser, den "Zehnten" in den Mittelpunkt des Festivals zu stellen. "Favoriten steht mitten in einem Übergangsprozess: Der neue Hauptbahnhof, das Sonnwendviertel, die U-Bahn-Verlängerung nach Oberlaa, alles rückt näher an die Stadt heran. Wir hatten einfach das Gefühl, jetzt ist der Moment für den Zehnten."
Der Zehnte zählt zu den einwohnerstärksten Bezirken der Bundeshauptstadt.
Für die Planung des Hauptbahnhofes, der Ende des Jahres in Vollbetrieb gehen soll, wurden Stadtentwicklungsgebiete wie das Sonnwendviertel oder das Quartier Belvedere berücksichtigt. Bis 2019 wird Favoriten auf 200.000 Einwohner anwachsen – das sind mehr als in Linz oder Salzburg. Lilli Hollein, die in der Nähe des ehemaligen Südbahnhofes groß geworden ist und dort heute noch wohnt, verfolgt das Geschehen intensiv: "Es wird interessant, wie sich die Gegend entwickelt, wie konsistent die Architekturqualität sein wird. Ich glaube, dass sich die Stadt an dieser Stelle leisten sollte, schwierig zu sein." Den Hauptbahnhof empfindet sie als große Bereicherung, wenngleich Verbesserungspotenzial besteht: "Der Bahnhof könnte stärker mit der Stadt verwoben sein und ein identitätsstiftendes Kunstwerk vertragen." Die Funktionalität des Projekts, konzipiert und umgesetzt von den Architekten Ernst Hoffmann, Theo Hotz und Albert Wimmer, steht im Vordergrund.
Auf dem Weg zum nächsten Schauplatz erklärt Hollein ihren Zugang zum Festival: "Wir möchten zeigen, dass Design an vielen Orten vorhanden ist." Eben auch in Gegenden, in denen man das weniger vermuten würde. "Die Idee des Fokusbezirkes zielt darauf ab, dass wir irgendwann einmal vor fast jeder Haustür gelandet sind und Leute einen Fuß in einen Kulturbereich setzen, den sie aus eigenem Antrieb nicht machen würden." Es passiere immer wieder, dass selbst Anrainer mit einem ganz anderen Blick durch ihr Grätzel marschieren. "Wir haben eine sehr gute Produktionskultur, die den Leuten wieder bewusst werden soll. Dann merken sie, dass es hier einen tollen Tischler gibt, dort einen Sandstrahlbetrieb und drüben eine Ledermanufaktur. Sie sollen wieder Gebrauch von der eigenen Stadt machen."
Bereits zum neunten Mal findet die Vienna Design Week statt.
Anschaulich wird dies in der Wiener Essig Brauerei von Erwin Gegenbauer. Am Rand des Sonnwendviertels gelegen, reicht die Familienunternehmensgeschichte bis ins Jahr 1929 zurück. Gegenbauer hat sich heute auf die Produktion hochwertiger Essige und Öle spezialisiert, röstet aber auch Kaffee, produziert Fruchtsäfte und braut Bier – ein Mikrokosmos der urbanen Selbstversorgung. Neben der Besichtigung der Manufaktur ermöglichen die "Wiener Gästezimmer" im ersten Stock eine Auseinandersetzung mit Favoriten und seiner Historie – das Haus wurde ursprünglich als Arbeiterwohnhaus von der den Bezirk prägenden Ziegelindustrie errichtet. Gemeinsam mit den Architekten Heribert Wolfmayr und Josef Saller von heri&salli ließ der Hausherr fünf "Zimmer-Kuchl-Kabinett"-Wohnungen entkernen, Ziegel, Decken und Böden freilegen und schuf so einen Wohnraum, der auf das Wesentliche reduziert ist. "Ein Architekturbeitrag, der diesem Ort entspricht und die besondere Produktionsatmosphäre widerspiegelt", urteilt Hollein.
In der Essigfabrik von Erwin Gegenbauer wurden Arbeiterwohnungen zu Gästezimmern umgestaltet.
Die "Wiener Gästezimmer" schafften es damit auf die Shortlist für den Staatspreis Design 2015. "Die Thematik hat im Lauf der letzten Jahre eine Spur mehr Selbstverständlichkeit bekommen. Gerade in Österreich hat die Unternehmerschaft zu wenig erkannt, dass Design ein unabdingbarer Schlüssel zum Erfolg ist", sagt Hollein. Das von ihr gemeinsam mit Tulga Beyerle und Thomas Geisler 2007 ins Leben gerufene Festival hat einerseits zum Ziel, eine internationale Plattform für Design in Wien zu schaffen, zum anderen aber auch, Designer, Publikum und Unternehmer zusammenzubringen. "Wir sind ein Designanbahnungsinstitut", sagt Hollein lachend. So kommt es, dass die französische Designerin Marlène Huissoud aus Produktionsrückständen von Gegenbauers Manufaktur Tische und Objekte formt. Oder Stephanie Hornig mit Leder und Textil die Kunst des Wiener Geflechts von Robert Roth neu interpretiert.Nicht auszuschließen ist auch, dass aus Besuchern Teilnehmer werden. Jacqueline Pehack hat in den vergangenen Jahren Ateliers und Ausstellungen erkundet, dieses Jahr präsentiert sie die erste Kollektion ihrer erst kürzlich eröffneten Möbelmanufaktur. "Eine junge Tischlerin, die so viel Wert auf Detailarbeit und Qualität legt, öffnet ihre Werkstatt – da lacht mein Herz", sagt Hollein. Auch andere Manufakturen wie der Wasserstrahlschneidebetrieb PEGA-Cut oder die Meistertischlerei 2M von Walter und Michael Müllner weisen auf das schöpferische, aber meist versteckte Potenzial Favoritens hin.
Der Wiener Hauptbahnhof in Favoriten zählt zum jüngsten Bau-Zuwachs in Favoriten.
"Das Anknüpfen an die reiche Tradition gelingt der aktuellen Generation viel unbelasteter als den Generationen zuvor. Verknüpft mit einer Weltgewandtheit, entwickelt sich da gerade etwas Gutes", sagt Hollein.Der Abschluss der Tour widmet sich der architektonischen Seite Favoritens. Der Bezirk beherbergt das ikonische Philipshaus ebenso wie die Twin Towers am Wienerberg ("Ich bin eine Freundin des Hochhauses. Wie einen die Twin Towers begrüßen, wenn man in die Stadt einfährt, hat etwas Großstädtisches."), aber auch die Zentralsparkassenfiliale von Günther Domenig in der Fußgängerzone Favoritenstraße. Letztere wurde zwischen 1975 und 1979 erbaut, wild diskutiert und schlussendlich zum Paradebeispiel zeitgenössischer Architektur. "Es scheint, als gebe es eine Magistratsvorschrift, dass denkmalgestützte Bauten in Österreich nur entstehen, wenn sie zuerst vehement abgelehnt werden, um anschließend liebevoll umarmt zu werden", sagt Hollein. Beton, Stahl und Blech bestimmen das "Domenig-Haus" mit seiner fließenden, scheinbar eingequetschten Fassade. Die skulpturale Hand im Inneren wacht momentan über Koffer und Trolleys, die im Erdgeschoß verkauft werden. "Da ergibt sich die Frage, wie man mit kulturellem Erbe umgeht. Es wäre schön, Zwischennutzungskonzepte zu finden, die der Architektur ihre Würde lassen. Das ist eine schwierige Aufgabe, die wir für ein paar Bauwerke in der Stadt angehen sollten."Angehen ist das Stichwort: Lilli Hollein verabschiedet sich, die nächsten Vorbereitungen müssen erledigt werden. Favoriten wird sich in den kommenden Jahren verändern, sicherlich aber auch in den nächsten Tagen: "Es geht bei der Vienna Design Week nicht um eine aufgehübschte Version des Normalzustandes. Wir wollen ein bisschen Ausnahmezustand." Der zehnte Bezirk kann sich auf einiges gefasst machen.
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