Zwei-Klassenmedizin ist kein Mythos

Zwei-Klassenmedizin ist kein Mythos
Wer Geld hat, lebt nicht nur gesünder, er hat auch einen besseren Zugang zu Ärzten.

Österreich als literarisches „Kakanien“ hat sich als in manchen Dingen seltsames Land (Robert Musil) offenbar gewünscht oder aus einer Anhäufung von historisch bedingten Zufällen ein zum großen Teil undurchschaubares System von „Klassen-Medizin“ geschaffen. Darauf verwies Andrea Fried von der Plattform Patientensicherheit.
„Wir haben in Österreich sehr viele Möglichkeiten, im Gesundheitswesen schneller zu Leistungen zu kommen. Da gibt es die normale Sozialversicherung. Aber hier sind schon Unterschiede, ob man bei der Beamtenversicherung ist oder bei der Sozialversicherung der Gewerblichen Wirtschaft. Es gibt Unterschiede zwischen den Gebietskrankenkassen, die Sonderklasse (private Zusatzversicherung für Spitalsaufenthalte; Anm.), die Möglichkeit, etwas aus der Tasche zu zahlen - legal oder illegal. Dann gibt es Protektion oder 'ich kenne jemanden'. Das ist in Österreich sehr beliebt. Und dann gibt es Menschen, die keine Versicherung haben. Mein persönlicher Eindruck ist, dass die Ungleichheit in den vergangenen Jahren zugenommen hat“, sagte Andrea Fried.

Wenig transparent

Zusätzlich zeigt sich in Österreich die Problematik, dass es offenbar zu wenig Transparenz bezüglich der Qualität von medizinischen Leistungen in der Praxis niedergelassener Ärzte und in den Krankenhäusern gibt. „Wir haben keine für die Patienten zugänglichen Informationen über die Qualität von Leistungen bei Ärzten und Krankenhäusern, mit denen die Patienten etwas anfangen können.“ Zwar sollten die Krankenhäuser per Gesetz seit 2011 manche Qualitätsdaten veröffentlichen, aber viele Bundesländer kämen dem noch nicht nach.
Der Präsident der Österreichischen Ärztekammer, Artur Wechselberger, betonte dazu, dass es wohl kaum mehr größere Spitäler ohne Qualitätsmanagement gebe. „Dass hier aber sicherlich Verbesserungen möglich sind, will ich nicht in Abrede stellen.“ Die geforderte Transparenz von Wartelisten für Untersuchungen und Eingriffe werde sichergestellt.

Überall auf der Welt

Die von vielen Gesundheitsexperten in Österreich diskutierte „Zwei-Klassen-Medizin“ existiert einfach. Die Frage ist, ob es sich nicht um ein komplexes System mit noch viel mehr Schattierungen bei den Möglichkeiten im Zugang zu Gesundheitsversorgung für den Einzelnen handelt, erklärten am Montag die Fachleute bei den Alpbacher Gesundheitsgesprächen mit dem Generalthema „Ungleichheit“.

„Die 'Zwei-Klassen-Medizin' existiert. Wichtiger ist die Frage nach dem Warum und der Art und Weise, wie sie funktioniert“, sagte Judit Simon, Professorin für Gesundheitsökonomie an der MedUni Wien. Die Expertin hat die verschiedensten Gesundheitssysteme nach dem Einfluss von Privatversicherungen etc. durchleuchtet. Da sind Länder wie die Schweiz, Griechenland und die Niederlande, wo es vor allem private Krankenversicherungen gibt. Auf der anderen Seite befinden sich Staaten wie Schweden, Island und die Türkei mit einem Gesundheitswesen aus öffentlichen Geldern. Österreich, Belgien, Kanada und Frankreich wiederum haben ein System der sozialen Krankenversicherung als Basis - mit verschiedenen Möglichkeiten zur Aufzahlung.

Schweden ungleicher

Ungleichheit im Zugang zu Gesundheitsleistungen gibt es offenbar überall. Laut OECD sei der Unterschied nach dem Einkommensstatus in einem Land wie Schweden größer als in Österreich, betonte Judit Simon. Doch das grobe Raster der Einkommensunterschiede oder die prinzipielle Konstruktionsart des Gesundheits- und Krankenversicherungswesens sagen wenig aus. „In Österreich sind 22 Prozent der Menschen in irgendeiner Weise privat versichert. Aber nur fünf Prozent der Gesundheitsausgaben kommen aus der Privatversicherung, der Rest wird aus der Tasche heraus bezahlt“, sagte die Expertin. Warum, wofür und mit welchem Effekt, das kann eigentlich niemand wirklich wissen.

Marktversagen

Rationierung und Regelungen zur „Zuteilung“ medizinischer Leistungen für bestimmte Personen sind ein Kernfaktor jedes Gesundheitswesens, wie die Gesundheitsökonomin erklärte. Das Gesundheitswesen weise - zum Beispiel weil Ärzte sowohl Besteller als auch Bereitsteller von Leistungen sind - immanent ein Marktversagen auf, das einfach Regulative erfordere. Das könne über Zuzahlungen erfolgen oder über Wartezeiten auf diagnostische oder therapeutische Interventionen.

Dies trifft auch das von manchen Gesundheitsökonomen und Health Technology Assessment-Experten so hoch gelobte staatliche britische Gesundheitssystem (NHS). Judit Simon erläuterte: „In Großbritannien sind acht Prozent der Bevölkerung aus dem NHS ausgetreten und haben sich ausschließlich privat krankenversichert. Ihnen waren die Wartezeiten einfach zu lang.“ Und wahrscheinlich bedeuten in vielen Staaten Bildung und sozialer Status entscheidendere Faktoren beim Zugang zum Gesundheitswesen als allein das Geld.

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