Als Putin die Invasion der Ukraine plante, konnte er auf viele bekannte Tatsachen zählen. Er wusste, dass Russland der Ukraine militärisch haushoch überlegen ist. Er wusste, dass die Nato keine Truppen schicken würde, um der Ukraine zu helfen. Er wusste, dass die europäische Abhängigkeit von russischem Öl und Gas Länder wie Deutschland zögern lassen würde, harte Sanktionen aufzulegen. Basierend auf diesen bekannten Tatsachen war sein Plan, die Ukraine mit Wucht und schnell anzugreifen, die Regierung zu vertreiben, stattdessen in Kiew eine Marionettenregierung einzusetzen und die westlichen Sanktionen auszusitzen.
Doch dieser Plan enthielt eine große Unbekannte. Wie die USA im Irak und die Sowjetunion in Afghanistan gelernt haben, ist es viel einfacher, ein Land zu erobern, als es zu halten. Putin wusste, dass er die Macht hat, die Ukraine zu erobern. Aber würde die ukrainische Bevölkerung Moskaus Marionettenregime einfach akzeptieren? Putin setzte darauf, dass die Menschen in der Ukraine genau das tun würden. Wie er jedem, der bereit war zuzuhören, immer wieder erzählte, ist die Ukraine schließlich keine richtige Nation und die Ukrainer und Ukrainerinnen sind kein echtes Volk. 2014 setzte die Bevölkerung der Krim den russischen Invasoren kaum Widerstand entgegen. Warum sollte es 2022 anders sein?
Mit jedem weiteren Tag wird deutlicher, dass Putins Spiel nicht aufgeht. Die ukrainische Bevölkerung leistet mit aller Kraft Widerstand und gewinnt damit die Bewunderung der ganzen Welt – und den Krieg. Viele dunkle Tage stehen an. Vielleicht schafft es Russland noch, die ganze Ukraine zu erobern. Aber um den Krieg zu gewinnen, müsste Russland die Ukraine unter Kontrolle halten, und das wird nur möglich sein, wenn die ukrainische Bevölkerung es zulässt. Doch genau das wird zunehmend unwahrscheinlich.
Jeder zerstörte russische Panzer, jeder getötete russische Soldat lässt den Mut der Ukrainer und Ukrainerinnen zum Widerstand wachsen. Und jeder getötete Ukrainer verstärkt ihren Hass. Hass ist das hässlichste aller Gefühle. Aber für unterdrückte Nationen ist Hass ein versteckter Trumpf. Tief im Herzen vergraben, kann er über Generationen Widerstand aufrechterhalten. Für die Erneuerung des russischen Reichs braucht Putin einen relativ unblutigen Sieg, der zu einem relativ hassfreien Frieden führt.
Je mehr ukrainisches Blut er vergießt, desto mehr stellt Putin sicher, dass sein Traum nie in Erfüllung geht. Auf dem Totenschein des russischen Imperiums wird nicht Michail Gorbatschows Name stehen, sondern Putins. Gorbatschow sorgte dafür, dass Russen und Ukrainer sich wie Geschwister fühlen; Putin hat sie zu Feinden gemacht und dafür gesorgt, dass die ukrainische Nation sich fortan in Opposition zu Russland definiert.
Nationen sind letztlich auf Geschichten aufgebaut. Jeder Tag, der vergeht, fügt weitere Geschichten hinzu, die die ukrainische Bevölkerung nicht nur in den vor ihr liegenden dunklen Tagen erzählen wird, sondern noch in den kommenden Jahrzehnten und Generationen. Der Präsident, der sich weigerte, aus der Hauptstadt zu fliehen, und den USA sagte, er brauche Munition, keine Mitfahrgelegenheit; die Soldaten auf der Schlangeninsel, die einem russischen Kriegsschiff auf die Aufforderung, sich zu ergeben, „Fickt euch!“ antworteten; Zivilisten, die versuchen, russische Panzer aufzuhalten, indem sie sich in den Weg setzen. Das ist der Stoff, aus dem Nationen gemacht werden. Langfristig zählen diese Geschichten mehr als Panzer.
All das sollte der russische Despot so gut wie jeder andere wissen. Als Kind wuchs er mit den Geschichten über deutsche Gräueltaten und die russische Tapferkeit bei der Belagerung von Leningrad auf. Jetzt produziert er selbst solche Geschichten, nur dass er selbst in die Rolle Hitlers schlüpft.
Dabei stärken die Geschichten von ukrainischer Tapferkeit nicht nur die Entschlossenheit der Ukrainer und Ukrainerinnen, sondern die der ganzen Welt. Sie ermutigen die Regierungen der europäischen Länder, die US-Regierung, ja sogar die unterdrückten Bürger und Bürgerinnen Russlands. Wenn Menschen in der Ukraine es wagen, mit bloßen Händen Panzer aufzuhalten, kann die deutsche Regierung es wagen, der Lieferung von Anti-Panzer-Raketen zuzustimmen, die US-Regierung kann es wagen, Russland von Swift auszuschließen, und russische Bürger und Bürgerinnen können es wagen, für ihre Ablehnung dieses sinnlosen Krieges zu demonstrieren.
Wir alle können uns inspirieren lassen, uns zu trauen, etwas zu tun – sei es zu spenden, Flüchtlinge aufzunehmen oder den Kampf im Internet zu unterstützen. Der Krieg in der Ukraine wird die Zukunft der ganzen Welt prägen. Wenn Tyrannei und Aggression die Oberhand gewinnen, werden wir alle die Folgen zu spüren bekommen. Es hat keinen Sinn, nur Beobachter zu bleiben. Es ist an der Zeit, aufzustehen und sich einzumischen.
Leider wird dieser Krieg wohl noch lange andauern. Er kann sich in verschiedenen Formen über Jahre hinziehen. Aber die wichtigste Sache ist bereits entschieden. Die vergangenen Tage haben der ganzen Welt bewiesen, dass die Ukraine eine Nation ist, dass die Ukrainer ein echtes Volk sind, und dass sie definitiv nicht unter der Herrschaft eines neuen russischen Reichs leben wollen.
Die wichtigste offene Frage ist, wie lange es dauert, bis diese Botschaft durch die dicken Mauern des Kremls dringt.
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