Darum ist Wildschwein-Fleisch bis heute verstrahlt

Darum ist Wildschwein-Fleisch bis heute verstrahlt
37 Jahre nach der Katastrophe von Tschernobyl ist Wildschweinfleisch immer noch stark radioaktiv. Österreichische Forscher haben jetzt den Grund gefunden.

Jahrelang rätselte man: Warum ging nach der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl die radioaktive Belastung von Rotwild-Fleisch zurück, während Wildschwein-Fleisch bis heute „strahlt“? Dass man nicht dahinter kam, ärgerte die Wissenschafter so sehr, dass die dem Phänomen sogar einen eigenen Namen gaben: "Wildschwein-Paradoxon".

Jetzt, mehr als 37 Jahre nach der Katastrophe in der heutigen Ukraine, scheinen ausgerechnet österreichische Wissenschafter – gemeinsam mit Kollegen von der Leibniz Universität Hannover – im Fachblatt Environmental Science & Technology, das Geheimnis gelüftet zu haben: Die Lieblingsspeise der Wildschweine dürfte schuld sein.

Rückblick

Ältere Semester werden sich noch gut erinnern: Am 26. April 1986 explodierte nach einem fehlgeschlagenen Experiment der Reaktorblock vier des damals sowjetischen Kernkraftwerks Tschernobyl. Wochenlang wurde in ganz Europa davor gewarnt, Pilze zu essen – zu hoch sei die  radioaktive Belastung. Auch das Fleisch von Wildtieren war einige Jahre lang stark betroffen. Während die Belastung von Hirschen und Rehen aber zurückging, blieb das Fleisch von Wildschweinen überraschend verstrahlt. Bis heute werden die Grenzwerte deutlich überschritten.

Darum ist Wildschwein-Fleisch bis heute verstrahlt

Vorsicht mit Wildschwein-Fleisch. Könnte Krebs begünstigen

Forscher um den Radioökologen Georg Steinhauser von der Technischen Universität Wien haben nun etwa 50 in Bayern erlegte Wildschweine aus den Jahren 2019 bis 2021 untersucht und dabei eine Belastung mit dem radioaktiven Isotop Cäsium-137 von 370 bis zu 15.000 Becquerel pro Kilogramm festgestellt. Damit wurde der EU-Grenzwert für den Verzehr um das bis zu 25-fache überschritten. Er liegt bei 600 Becquerel.

Chemie-Nachhilfe

Um zu verstehen, was nach dem Unglück – der größten Atomkatastrophe in der zivilen Nutzung der Kernkraft – passierte, braucht es ein bisschen Chemie-Nachhilfe: Zehn Tage lang reicherte sich die Atmosphäre mit  großen Mengen radioaktiver Stoffe an. Die Hitze im Reaktor transportierte leichtflüchtige radioaktive Stoffe wie Jod und Cäsium in ungeahnte Höhen. So konnten sie sich über Europa verbreiten und kehrten im Regen auf den Boden zurück.

Darunter befand sich auch Cäsium-137, das eine Halbwertszeit von rund 30 Jahren hat. Der Strahlenexperte erklärt:

Nach 30 Jahren ist also die Hälfte des Materials ganz von selbst zerfallen.

von Georg Steinhauser

Technischen Universität (TU) Wien

Üblicherweise geht die Strahlenbelastung von Lebensmitteln aber viel schneller zurück, weil sich das Cäsium im Laufe der Zeit verteilt, vom Wasser ausgewaschen bzw. in Mineralien gebunden wird oder tiefer in den Boden gelangt, schreiben die Forscher in einer Aussendung der Technischen Universität (TU) Wien. Pflanzen und Tiere nehmen daher geringere Mengen auf als unmittelbar nach dem Reaktorunglück.

Rätsel

Woher kommt dann die deutlich zu hohe Belastung des Wildschwein-Fleisches?, fragte sich Georg Steinhauser vom Institut für Angewandte Synthesechemie der TU Wien und untersuchte mit Kollegen der Universität Hannover nicht nur die Menge, sondern auch die Herkunft der Radioaktivität.

Cäsium-Fingerabdruck

Sie nutzten dabei die Tatsache, dass jeder Atomunfall und jeder Atomtest seinen ganz eigenen Cäsium-Fingerabdruck hat. „So wird etwa nicht nur Cäsium-137 freigesetzt, sondern gleichzeitig auch Cäsium-135, ein Cäsium-Isotop mit deutlich längerer Halbwertszeit“, erklärt Bin Feng, der am Institut für Anorganische Chemie der Leibniz Universität Hannover und dem TRIGA Center Atominstitut der TU Wien forscht.

Und siehe da: Die Forscher stellten fest, dass das Mischungsverhältnis der beiden Cäsium-Sorten bei der Tschernobyl-Katastrophe anders war, als etwa bei den Atomwaffentests.

Atomwaffen waren vor allem in den 1950er-Jahren bis 1963 von den USA und der Sowjetunion oberirdisch getestet worden. Daraus stamme der Hauptanteil der radioaktiven Belastung, spätere Tests hätten eine untergeordnete Bedeutung, sagt Steinhauser.

Aufwendige Analysen brachten dann die erhofften Erkenntnisse: Während insgesamt rund 90 Prozent des Cäsiums-137 in Mitteleuropa aus Tschernobyl stammen, ist der Anteil in den Wildschweinproben viel geringer. Ein großer Teil ist unerwünschtes Überbleibsel der längst vergangenen Atomwaffentests – bei manchen Proben bis zu 68 Prozent.

Lieblingsspeise: Hirschtrüffel

Als Ursache vermuten die Forscher die Vorliebe der Wildschweine für die Hirschtrüffel: In diesen unterirdisch wachsenden Pilzen reichert sich das radioaktive Cäsium erst mit großer Zeitverzögerung an. „Es wandert sehr langsam durch den Boden nach unten, manchmal nur rund einen Millimeter pro Jahr“, sagt Steinhauser. Dadurch komme es auch erst spät bei dem Pilz an.

So erklärt sich, dass das "alte" Cäsium überproportional im Wildschwein ist – das Tschernobyl-Cäsium ist beim Hirschtrüffel noch gar nicht in vollem Ausmaß angekommen.

von Georg Steinhauser

Strahlenexperte

Vor allem wenn das Futter an der Oberfläche gegen Ende des Winters knapp werde, müssten die Tiere graben und sich von dem Pilz ernähren. Das erkläre auch, warum im Winter geschossene Schweine tendenziell stärker kontaminiert waren.

Dass die Belastung von Wildschweinfleisch in den nächsten Jahren deutlich sinkt, daran glaubt Steinhauser übrigens nicht, denn ein Teil des Cäsiums aus Tschernobyl wird erst jetzt in die Trüffeln eingelagert. „Unsere Arbeit zeigt, wie kompliziert die Zusammenhänge in natürlichen Ökosystemen sein können.“

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