Andrea Kruse setzt ihre ganze Hoffnung auf Abfall. Wobei sie das nie so sagen würde: „Wir mögen das Wort nicht, denn es ist unser Ausgangsprodukt.“ Die technische Chemikerin von der Universität Hohenheim in Stuttgart lacht, wird sie doch schon bald größere Mengen von Hydroxymethylfurfural (HMF) produzieren. Für Laien wie Sie und mich: die Grundsubstanz für Damenstrümpfe. Aus Chicorée.
Aus den ungenießbaren, ganzjährig verfügbaren Wurzeln kann tatsächlich eine der zwölf Basischemikalien gewonnen werden, die man zur Herstellung von Nylon, Perlon, Polyester oder Kunststoffflaschen braucht – sogenannten PEF-Flaschen, analog zu den PET-Flaschen.
Bisher wurden diese Stoffe aus Erdöl gewonnen. Heute weiß Kruse, dass sie dafür nur irgendeine Form von Kohlehydrat braucht – „Zellulose, Stärke oder Inulin. Das findet man in allen möglichen Pflanzen. Zum Beispiel in Stroh aus der Getreideproduktion, Grünschnitt oder eben in den Rüben von Chicorée“, zählt sie auf. „Der Salat wird gegessen, die Wurzeln werden weggeworfen. Was für eine Verschwendung“, meint Kruse und extrahiert die kostbare Substanz (2.000 Euro das Kilo im Chemikalien-Großhandel) seit einigen Jahren im Labor.
Wie das geht
Bleistift-große Rohrreaktoren aus Edelstahl werden mit Häckseln der Wurzelrübe und Wasser befüllt, verdünnte Säure dazu und bis zu 200 Grad erhitzen. Das wässrige Produkt wird anschließend in weiteren – geheimen – Schritten aufbereitet. Am Ende steht jedenfalls ein gelb-bräunliches kristallines Pulver: ungereinigtes Hydroxymethylfurfural.
Warum das besser ist
„Die Strümpfe daraus sind chemisch identisch, schauen gleich aus und haben dieselben Eigenschaften wie normale Strümpfe“, versichert die Chemikerin. Aus Chicorée entsteht sogar eine höherwertige Chemikalie als das Äquivalent aus Erdöl. Dadurch könnten PEF-Flaschen aus Chicorée-HMF beispielsweise dünner gezogen werden, als solche aus Erdöl-PET. Das verbessert die Umweltbilanz.
Überall auf der Welt denken Forscher über Alternativen zu fossilen Rohstoffen nach. Die Chicorée-Strümpfe sind dabei nur einer der überraschenden Ansätze:
Aus Pilzen lassen sich nicht nur Waschmittel, Medikamente und Kosmetika herstellen. Auch an „Bio-Zement“ wird experimentiert. So entstanden aus fadenförmigen Zellen von Pilzen, sogenannten Myzelien, champignonfarbene Bauklötze, die im Berliner Wissenschaftsmuseum Futurium besichtigt werden können.
Sogar über Wolkenkratzer aus Holz und Stroh – „Woodscraper“, in Anlehnung an die „Skyscraper“ – wird längst nachgedacht. Holz und Pilze sind Teil eines umfassenderen Systems – einer Kreislaufwirtschaft, in der sich alle verbauten Stoffe kompostieren oder wiederverwenden lassen. Der größte Stolperstein: Damit sich ein Baustoff ein zweites oder drittes Mal nutzen lässt, darf er nicht toxisch und nicht von Klebern oder Lacken verunreinigt sein.
Im Labor für nachwachsende Rohstoffe der Technischen Hochschule Bingen wiederum wird aus Pflanzenmaterial Hanfbastrinde hergestellt. Diese kann Carbonfasern ersetzen, die extrem fest und leicht sind – etwa im Automobilbau oder in Tennisschlägern.
Unglaublich, aber wahr: Sogar aus dem auf Almen geernteten Heu, aus Kräutern und Blüten entsteht Strapazierfähiges – nämlich Fußboden-Beläge. Um einen „Heu-Boden“ herzustellen, wird der Grünschnitt mit einem ökologischen Bindemittel vermischt. Dann presst die Firma alles zu einer harten Schicht zusammen, die auf eine Trägerplatte aufgebracht wird. Bei der gesamten Herstellung werden keine Kunststoffe eingesetzt.
Geschroteter Futtermais wiederum wird zu Popcorn-Granulat und in Verbindung mit naturnahen Bindemitteln zu stabilen und dennoch leichten Platten verarbeitet. Popcorn-Platten dämpfen den Schall, sind schwer entflammbar, haben eine sehr geringe Wärmeleitfähigkeit und sind extrem leicht.
Auch Moose sind für die Forscher im Bereich Bioökonomie hochinteressant. Sie können Feinstaub und Kohlendioxid aus der Luft filtern, das Raumklima verbessern und wirken wärmedämmend.
Die unglaublichste Idee hatte aber Forscher des Fraunhofer Instituts. Sie schauten sich den anspruchslosen Russischen Löwenzahn näher an, enthält die Pflanze doch einen kautschukhaltigen Milchsaft. Und siehe da: Mittlerweile sind die ersten Löwenzahn-Reifen bereits auf der Straße unterwegs
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