Warum in Southampton das Titanic-Unglück auch jetzt noch allgegenwärtig ist

Warum in Southampton das Titanic-Unglück auch jetzt noch allgegenwärtig ist
Vor 111 Jahren ging die Titanic unter. Die Wunden der Katastrophe sieht man bis heute.

Passagiere, die sich den Weg durch die Gruppe Schaulustiger bahnten; Männer, die hofften, in letzter Minute noch einen Job zu ergattern; Angehörige, die mit Taschentüchern winkten: Der Hafen von Southampton war am 10. April 1912 ein einziges Spektakel. Unter Jubel verließ das größte Passagierschiff der Welt dann kurz nach 12 Uhr bei strahlendem Sonnenschein den Ankerplatz 44.

Die jüngste Passagierin an Bord war die neun Wochen alte Millvina Dean. Ihre Eltern wollten nach Wichita, Kansas, wo Vater Bertram Frank im Tabakladen seines Cousins mitarbeiten könnte. Doch es sollte anders kommen. Andrew Skinner schüttelt den Kopf. Der britische Historiker hat die Geschichte Dutzende Male erzählt. Aber sie geht ihm immer noch nah; seine Frau war Millvinas Cousine zweiten Grades.

Warum in Southampton das Titanic-Unglück auch jetzt noch allgegenwärtig ist

Millvina Dean

Skinner steht vor einer Wand mit Hunderten Köpfen – in Orange und Blau. Diese Tafel in Southamptons Titanic-Museum zeigt die Crew des Schiffs. Orange wurden jene Mitglieder eingefärbt, die aus Southampton kamen: Es sind mehr als drei Viertel.

Warum in Southampton das Titanic-Unglück auch jetzt noch allgegenwärtig ist

Denn obwohl die Passagiere aus aller Welt kamen, wurde die fast ausschließlich männliche Crew lokal angeheuert. Der Streik der Bergarbeiter hatte die Arbeitslosigkeit in die Höhe getrieben und so waren es heiß begehrte Posten. Bis am Abend des 14. April der Ruf des Kapitäns kam: „Frauen und Kinder zuerst!“ Das Besatzungsteam wurde aufs Deck geordert – doch dort standen viele planlos. Kein einziges Mal hatten sie den Ernstfall geprobt.

Die jüngste Überlebende

Bertram Frank Dean, der den Zusammenprall mit dem Eisberg gespürt hatte, drängte seine Familie, an Deck zu gehen. Doch als sie bei Rettungsboot Nr. 10 ankamen, war Millvinas Bruder nicht da. Bertram setzte seine Frau und Millvina ins Boot und begann seinen Sohn zu suchen. Erst am Deck der Carpathia (das als einziges Schiff der Titanic zu Hilfe kam) würde Etta ihren Sohn in die Arme schließen können. Millvina war die jüngste Überlebende. Ihren Vater sah sie nie wieder.

Titanic
Die RMS-Titanic war mit 169 Metern Länge, 28 Metern Breite zu ihrer Zeit das größte Passagierschiff.  Sie wurde im Auftrag der britischen Reederei „White Star Line“ in Belfast von „Harland & Wolff“ gebaut, mehr als 2.200 Passagiere und Crewmitglieder hatten Platz. Das Schiff sank während seiner Jungfernfahrt, als es am Abend des 14. April 1912 im Nordatlantik auf einen Eisberg stieß.

Southampton
Besiedelt seit der Steinzeit, erlebte Southampton seine Hochzeit als Kurort im 18. Jahrhundert und besitzt heute den größten Kreuzfahrtschiffshafen und zweitgrößten Containerhafen des   Landes. 1912 hatte die Stadt 119.000 Einwohner, heute sind es mehr als doppelt so viele. Mehr als ein Drittel der rund 1.500 Titanic-Opfer stammten aus Southampton.

Southampton würde nicht nur als Auslaufhafen der Titanic in die Geschichte eingehen. Von den 1.500 Opfern stammten mit 594 mehr als ein Drittel aus der südenglischen Stadt; keine andere wurde derart in Mitleidenschaft gezogen. Daher ist auch 111 Jahre später die Katastrophe in Southampton allgegenwärtig. Gleich mehrere Pubs beziehen sich in Namen oder Logo auf das Schiff. Mahnmale prägen die Stadt: Es gibt eines für die Musiker, eines für die Ingenieure, die Restaurantmitarbeiter, die Postoffiziere.

Vorbild für den Film

Und dann sieht man schwarze, ovale Plaketten an Hausfronten. Jene an der Town Quay Promenade erinnert an „James McGrady, Stewart 1. Klasse“, umgekommen 1912 im Titanic-Desaster. Die Plakette ist neben der Eingangstür in die „Plattform Tavern“, das einzige Pub mit Blick auf den Anlegeplatz. Deshalb erzählt Lokalbetreiber Stewart Cross gerne, dass es Vorbild für jenes Lokal war, in dem Leonardo DiCaprio als Jack sein Ticket für die Überfahrt gewinnt. Gedreht wurde der Hollywood-Blockbuster, der heuer 25. Jubiläum feiert, nicht in Southampton. Aber Regisseur James Cameron war zur Recherche angereist und durch die Straßen gewandelt.

Warum in Southampton das Titanic-Unglück auch jetzt noch allgegenwärtig ist

Es gab kaum eine Familie, die nicht jemanden kannte, der auf dem Schiff war. Und so strömten die Hunderte besorgten Bewohner zur Zentrale des „White Star Line“, der Titanic-Reederei, in der Oxford Street.

„Das Ticketoffice war hier“, sagt Bridget Vyze und zeigt auf einen Eckbereich der „White Star Tavern“, in dem an diesem Nachmittag ein paar Gäste sitzen. Es ist eine geübte Geste der Hotelmanagerin. Regelmäßig kommen Titanic-Fans bei ihr vorbei. Einige übernachten auch. Die Zimmer im ersten Stock sind die selben, in denen Gäste vor der Abfahrt nächtigten. Manche von ihnen würden heute noch durch die Räume geistern. „Oh ja, wir haben Gespenster“, sagt Vyze und lacht. „Wir sehen wie sie auf unseren Überwachungskameras, Türen öffnen oder schließen.“ Ist das nicht gruselig? „Gar nicht. Es zeigt, wie viel Leben hier war. Und hier sind ja die guten Erinnerungen: von der ausgelassenen Nacht vor der Abfahrt.“

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Das letzte Nachtmahl

Um den 111. Jahrestag zu feiern, wird Vyze am 14. April das letzte Abendessen von der Titanic servieren. Die Speisekarte hängt im Titanic-Room an der Wand: Eierspeise mit Spargel oder Lauchsuppe zur Vorspeise, Lachs, Ochsenzunge oder Rind-Schinken-Pastete als Buffet-Hauptspeise und Käse zum Abschluss. Die wohlhabenden Passagiere waren einen Steinwurf entfernt im edlen South Western House, gleich gegenüber dem früheren Hauptbahnhof, der damals am Hafen lag.

Warum in Southampton das Titanic-Unglück auch jetzt noch allgegenwärtig ist

Hier, im Hafen, wurde 2009 die Asche von Millvina Dean verstreut; an jener Stelle, in der sie 97 Jahre zuvor in See gestochen war.

Auch wenn sie zeit ihres Lebens Vorträge über die Titanic hielt, zu einer Sache konnte sie sich nie durchringen, erzählt sie in einem ihrer letzten Interviews: „Den Film könnte ich nicht schauen. Ich hätte überlegen müssen, was mein Vater gemacht hat. Das wäre zu emotional.“

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