Time Machine: So sah die Welt anno dazumal aus
Noch wirkt die Online-Animation ein wenig, als wäre sie der digitalen Frühzeit entsprungen. Immerhin gibt es ganz oben einen großen blauen Zeit-Regler, auf dem man mit der Maus in die Vergangenheit reisen kann.
- 1230: eine Befestigungsmauer, ein Tor, eine Brücke, der Schweizerhof tauchen auf.
- 1355: Zwei Türme sind dazu gekommen.
- 1531: Die Anlage ist um einen Vorplatz angewachsen.
- 1710: Der Leopoldinische Trakt steht, und langsam bekommt man eine Idee, wie die Hofburg heute ausschaut.
Die "Time Machine" kommt nach Wien
„Wir alle verwenden Google Maps und manövrieren im 3D-Raum – suchen Häuser und Restaurants. Was, wenn wir etwas über Sehenswürdigkeiten, Besitzer, Geschäfte, Baupläne und Nutzung in den vergangenen Jahrhunderten erfahren könnten“, dachte Richard Kurdiovsky. Der Kunsthistoriker von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) stellte unlängst einen Prototypen seiner digitalen Zeitmaschine vor, in dem einiges von diesen Visionen umgesetzt wurde. „Wir wollen die Geschichte der Hofburg vom Mittelalter bis in die Gegenwart am 3D-Modell visualisieren.“ Es ist die Keimzelle der Wiener Time Machine.
Mit einem Klick kommen Sie in die Hofburg anno dazumal.
Wien ist nicht genug
Europaweit soll aus historischen Daten ein „Big Data der Vergangenheit“ werden – eine virtuelle Rekonstruktion von Geschichte.
Das Projekt hat es sogar ins neue Regierungsprogramm geschafft: Auf Seite 314 verspricht man, „die Zeitmaschinenorganisation im Bereich Künstliche Intelligenz und kulturelles Erbe zu unterstützen“.
Das ist auch nötig: Derzeit gibt es noch Probleme mit der Digitalisierung von Urkunden. Sie ist oft sehr mühsam. Seiten müssen mit der Hand umgeblättert werden und das sei zeitaufwendig. Sind alte Handschriften und Bilder erst einmal gescannt, fehlen Werkzeuge, um die Infos automatisch herauszulesen.
Was es braucht, umreißt der St. Pöltener Historiker Thomas Aigner, Präsident des internationalen Archivnetzwerkes Icarus und Time-Machine-Mitinitiator: „Eine Künstliche Intelligenz, die mit den historischen Inhalten umgehen kann, so programmiert ist, dass sie selbst visualisieren kann; weiters aus eingescannten Inhalten sofort die richtigen Verlinkungen ableitet. Der Computer soll automatisch erkennen, was auf alten Bildern zu sehen ist – egal, ob Häuser oder Personen.“ Auch die Gesichtserkennung müsse für historische Fotos perfektioniert werden.
Beispiele für gelungene Vorhaben an der Schnittstelle von historischen Quellen und moderner Technologie gebe es auch in Österreich: So hat die TU Wien Technologien entwickelt (z. B. einen Multispektralscanner), die Dinge erkennen, die das menschliche Auge nicht sehen kann.
Die Universität Innsbruck beschäftigt sich mit Handschriften-Erkennung. Hier werden Systeme entwickelt, die u.a. mittels KI alte Handschriften digital transkribieren können.
Das Archivnetzwerk Icarus wiederum steht hinter der Digitalisierung der Personenstandsbücher in ganz Österreich.
Bereits 2018 ging die „Sammlung Woldan“ online. Mehr als 380 wertvolle historische Landkarten der ÖAW sind digitalisiert und frei im Web einzusehen. Das Besondere: Die hochauflösenden Scans wurden punktgenau den geografischen Koordinaten zugewiesen – „georeferenziert“, wie es in der Fachsprache heißt. In den „Vogelschauplan Wiens“ aus der Zeit Maria Theresias kann man dank hochauflösender Scans in die Straßen Wiens hineinzoomen und eine moderne Straßenansicht von Google Earth eins-zu-eins darüberlegen. Der unmittelbare Vergleich zwischen damals und heute zeigt, welche Wiener Bezirke im 18. Jahrhundert noch Weideland waren oder was sich damals auf dem Grundstück des eigenen Wohnhauses befand.
Alles begann mit Venedig: Die dortige Zeitmaschine ist der Nucleus des Time-Machine-Project. Innerhalb der vergangenen Jahre digitalisierten Forscher teils Tausende Jahre altes Archivmaterial und bereiten es mit Big Data und künstlicher Intelligenz so auf, dass man virtuell durch die Stadt spazieren und erleben kann, wie Venezianer früher lebten, arbeiteten, Geschäfte abwickelten, Schulden machten und ins Gefängnis wanderten.
Die Zeitmaschine für Venedig ist noch immer in der Entwicklungsphase. Ebenso wie lokale Zeitmaschinen anderer europäischer Länder: Budapest ist bereits recht weit; auch Neapel, Jerusalem, Amsterdam oder Paris haben ihre Time Machines. Alle sollen, so die Vision, irgendwann zu einer riesigen weltweiten Time Machine zusammenwachsen, die für alle frei zugänglich ist.
Frederic Kaplan, Eidgenössische Technische Hochschule Lausanne, initiierte das Projekt 2017. Ziel: Europäische Städte und ihr kulturelles Erbe in 3D-, beziehungsweise sogar 4D-Modellen digital zum Leben zu erwecken. Mittlerweile machen 500 Institute aus 32 Ländern mit – Universitäten, Museen, Archive, Ministerien, Firmen. Auch historisch interessierte Privatpersonen können Mitglieder werden.
www.timemachine.eu
Herausforderungen
„Nur zehn bis 15 Prozent der Dokumente in Museen und Archiven sind derzeit digitalisiert“, sagt Max Kaiser von der Österreichischen Nationalbibliothek. „Und für Nutzer ist es oft nicht einfach, Fraktur- oder Kurrent-Schrift zu entziffern.“ All das soll irgendwann die Time Machine erledigen, in der alle Einzelprojekte zusammengeführt werden sollen. Das Potenzial ist riesig, glaubt Kaiser und denkt an Schulen: 3D-Karten- und -Dokumente würden den Unterricht revolutionieren. Auch für Reisende könnten ganz neue Angebote entwickelt werden – Stichwort Smart Tourism.
Sogar an Facebook-Seiten für Promis der Vergangenheit denken die Forscher: Vollautomatisch ließen sich Freundeslisten erstellen, die dann mit Objekten in Museen und Orten, wo die Berühmtheiten anno dazumal wohnten, verknüpft würden.
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