Ein neuer Covid-19-Simulator macht die Aerosol-Ausbreitung in Büros, Klassenzimmern und Gondeln sichtbar und berechnet, wo die Gefahr von Ansteckung groß ist.
Schon gegen Ende des ersten Lockdowns stellten sich Gerald Dipplinger und sein Team die Frage: „Wenn wir zurück ins Büro dürfen – ein Großraumbüro im Wiener DC-Tower – wie wird festgelegt, wie viele Menschen hinein dürfen? 30, 50 oder 70 Prozent der Belegschaft?“ Die Antwort – 30 Prozent – kam dann mehr aus dem Bauch heraus und war für das Artificial Intelligence Team der Beraterfirma PwC aus wissenschaftlicher Sicht wenig befriedigend. Projektleiter Dipplingers Ehrgeiz war geweckt – er wollte harte Daten.
„Wir haben also für unser Stockwerk einen digitalen Zwilling gebaut und begonnen zu simulieren: Zu wie vielen Kontakten kommt es, wenn man 30 Prozent der Belegschaft hinein schickt, oder eben 50 bzw. 70 Prozent. Die erste Erkenntnis aus den Computersimulationen war, dass es weniger auf die Anzahl ankommt, sondern darauf, wie viel sich die Leute bewegen.“
Simulation: So verbreiten sich Aerosole und somit Viren
Still sitzen und still sein
Sechs Monate später hat das Artificial Intelligence Team jetzt gemeinsam mit den Projektpartnern Samariterbund und AIT Center for Technology Experience den Covid-19-Simulator, ein computerbasiertes Aerosol- und Bewegungstool made in Austria, vorgestellt.
Besonders hohe Ansteckungsgefahr errechneten die Forscher für Räume, in denen laut gesprochen und schlecht gelüftet wird. Allerdings sei das Risiko von der konkreten Situation abhängig:
In offenen Bereichen kann man sich auch in einer Entfernung von mehr als zwei Metern bei einem Laut-Sprecher anstecken.
Gibt es in derartigen offenen Räumen noch dazu eine schlechte Belüftung und es wird viel sowie laut gesprochen (z. B. in einem Callcenter), ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass asymptomatische Personen andere infizieren – selbst, wenn sie sieben Meter von der infizierten Person entfernt sitzen.
Trennwände entpuppten sich diesfalls auch als kaum effektiv. Sogar Masken haben in gut belüfteten Räumen und bei stillem Arbeiten in bestimmten Konstellationen keinen signifikanten Einfluss auf das Infektionsgeschehen.
Die Aufforderung an die anwesenden Personen, ihre Stimme zu senken bzw. nur in einem separaten, belüfteten Raum laut zu sprechen, konnte die Wahrscheinlichkeit, mindestens eine weitere Person zu infizieren, auf unter ein Prozent senken.
Für andere interesssant
Als Dipplinger mit seinem Großraumbüro durch war, dachte er: „Die Simulationen könnten auch für andere Unternehmen interessant sein“, erzählt er im Gespräch mit dem KURIER und holte den Samariterbund mit ins Boot. „Wir haben uns dann den Lehrbetrieb anhand des Unterrichtsraums des Samariterbundes angeschaut. Aber auch Callcenter, Großraum- und Kleinraumbüros wurden simuliert“, erzählt Andreas Balog. Die gute Nachricht: „Der Covid-19-Simulator bestätigte die gängigen Schutzmaßnahmen – Maske, Lüften, Abstandhalten.“ Balog, Geschäftsleitung bei Samariterbund Österreich, weiter: „Alle Erkenntnisse fließen mit in unsere Covid-Präventionskonzepte mit ein.“
Bilder statt Worte
„Mithilfe der Aerosol-Simulation versteht man den Sinn und Zweck gewisser Maßnahmen besser, die Akzeptanz steigt“, hofft Projektleiter Dipplinger. „Wer verstanden hat, wie das Virus in konkreten Alltagssituationen tickt, dem fällt es leichter, sich vernünftig zu verhalten“. Motto: Ein Bild sagt mehr als tausend Worte.
Die Forscher sehen jedenfalls ein beachtliches Anwendungspotenzial: Ob Büros, Schulen oder Universitäten, Freizeiteinrichtungen wie Tanzschulen, Stadien oder Skigebiete – sie alle könnten das Ansteckungsrisiko in ihrem Betrieb überprüfen lassen. „Wobei ein Skiliftbetreiber wahrscheinlich die kritischen Situationen digital nachbauen lassen würde – die Gondel, das Anstellen, den Hüttenbesuch“, denkt Dipplinger laut nach. „Generell scheint es am sinnvollsten, kritische Punkte zu simulieren – der Zugang zu Gebäuden oder die Mittagspausen.“ Solange es noch keinen flächendeckenden Impfstoff gibt, müsse man auch weiterhin auf sinnvolle und individuell abgestimmte Schutzmaßnahmen setzen. „Nur so können wir den Betrieb in Zeiten der Pandemie aufrechterhalten und zugleich einen weiteren Lockdown verhindern.“
Zusatznutzen
Apropos beachtliches Anwendungspotenzial: „Der Simulator lässt sich übrigens problemlos auf jeden anderen Erreger anwenden – auf die Grippe genauso wie das Norovirus“, sagt Dipplinger. Schließlich wird auch diese Pandemie irgendwann enden.
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