Die Geschichte des jungen Staates ist geprägt vom Hin und Her zwischen Litauen, Polen und Russland. Ein Blick zurück kann helfen, Politik und Proteste zu verstehen.
Hätte es in Belarus etwas wie die Berliner Mauer gegeben, sie wäre 1991 gefallen: Als die UdSSR zerbrach und Weißrussland unabhängig wurde. Übrigens erst zum zweiten Mal in der Geschichte.
Belarus ist für viele ein weißer Fleck, Europas Terra incognita. Bestenfalls weiß man, dass Marc Chagall hier geboren wurde. Oder glaubt, dass hier die Katastrophe von Tschernobyl geschah. Wobei der Reaktor in Wahrheit in der Ukraine steht. „Wir waren den größten Teil unserer Geschichte unsichtbar“, sagte der belarussische Philosoph Valentin Akudowitsch einmal, „deswegen nimmt man uns heute von außen so schlecht wahr, und deswegen haben wir Probleme, uns selbst wahrzunehmen. Wir sind unsichtbar oder noch drastischer gesagt: Wir existieren nicht.“
Katholisch und polnisch
Lange war das tatsächlich der Fall: „Belarus hat ein halbes Jahrtausend zu Polen-Litauen gehört und war eher katholisch geprägt“, weiß Historiker Wolfgang Mueller vom Institut für osteuropäische Geschichte der Universität Wien. Ende des 18. Jahrhunderts wurde das Land dann vom russischen Zarenreich annektiert. Der russische und orthodoxe Einfluss wurde gestärkt. Und das blieb so bis 1918. „Das müssen wir betrachten, um die Unterschied zwischen Russland und Belarus zu verstehen“, sagt Mueller.
Den Belarussen wurde es daher nicht leicht gemacht, eine eigene Identität zu finden. Überhaupt erst einmal zuvor war man unabhängig – die Phase reichte 1918 gerade mal vom Frühling bis zum Winter. „Das Land blickte auf keine Tradition der Selbstständigkeit zurück“, sagt der Historiker. Für ein ausgeprägtes Nationalbewusstsein fehlte die einende Kraft einer Religion oder die eigene Sprache. Als man Teil der Sowjetunion wurde, galten als offizielle Sprachen gleich mehrere: Russisch, Weißrussisch, Polnisch und Jiddisch. Anfangs wurde die belarussische Kultur gefördert. Der radikale Stalinismus unterdrückte die nationale Autonomie dann aber nachhaltig.
Sowjetpropaganda
Stanislau Schuschkewitsch, 1991 bis 1994 Staatsoberhaupt Weißrusslands, analysierte einmal, die Nähe zu Russland habe deshalb so viel Gewicht, weil die belarussische Gesellschaft jahrzehntelang die Sowjetpropaganda verinnerlicht habe: „Seit 1917 wurde uns eingetrichtert, dass das große russische Volk dem kleineren Brudervolk hilft.“ Dass Belarus ein europäisches Land war, ging dabei unter.
Als Alexander Lukaschenko 1994 die Macht im Land übernahm, tat er alles dafür, den Kommunismus in die neue Zeit zu retten.
Er appelliert stark an die Verbundenheit mit Russland. Damit will er Wähler im Osten, Kommunisten und Sowjetnostalgiker ansprechen.
von Wolfgang Mueller
Historiker
Nach nur fünf Jahren Unabhängigkeit wurden die historische weiß-rot-weiße Flagge und das Staatswappen mit dem Reiter wieder abgeschafft. Stattdessen holte Lukaschenko die in den 1920er-Jahren in der Sowjetunion geschaffene künstliche Flagge hervor und machte sie zum offiziellen Staatssymbol.
Etikett: Diktator
Mittlerweile hat sich der schnauzbärtige autoritäre Herrscher einen eindeutigen Ruf erarbeitet. Das Etikett „der letzte Diktator Europas“ hat ihm Ex-US-Außenministerin Condoleezza Rice bereits 2005 verpasst.
„Um zu verstehen, was derzeit in Belarus abläuft, braucht man also nicht so weit in die Vergangenheit zurückzugehen“, sagt Historiker Mueller. „Ja, die drei ostslawischen Staaten Russland, Ukraine und Belarus gehen auf das mittelalterliche Reich der Kiewer Rus zurück. Ab 1240 haben sich Belarus und Ukraine aber anders als Russland entwickelt.“
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